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Fehlerkultur ist Lernkultur
Im Schatten fehlerhafter Handlungen werden Gewohnheiten, Organisationsprinzipien und Entscheidungsstrukturen sichtbar, die für individuelle Lernprozesse und für organisatorische Massnahmen genutzt werden können. Dazu ist es notwendig, den fehlerhaften Ablauf als vollgültige Handlung und nicht als etwas Pathologisches anzusehen. Wenn sich eine solche Kultur herausbildet, dann bieten Fehler eine Lernchance – unter Umständen sogar Innovationspotenzial.
20.03.2015
Die Suche nach einer «guten» Fehlerkultur
Wenn in Organisationen zunehmend nach einer Fehlerkultur gerufen wird, wird meist übersehen, dass immer schon eine solche existiert hat; nämlich Fehler zu tabuisieren, sie negativ zu bewerten, nach Schuldigen zu suchen, keine Führungsverantwortung zu übernehmen bzw. Verantwortung abzuschieben usw. Diese kulturellen Eigenarten – es wäre ein Fehler, hier womöglich von einer Unkultur zu sprechen – sollen durch eine konstruktive, positive, wohlwollende Sicht auf Fehler, Irrtümer und Missverständnisse, kurz: auf alle unerwünschten Ereignisse und Zielverfehlungen ersetzt werden.
Von Organisationen können diese und viele andere Ergebnisse der psychologischen Fehlerforschung nur dann nutzbringend umgesetzt werden, wenn man sich in einem ersten Schritt der vorhandenen Fehlerkultur stellt und ihr nicht durch den gutgemeinten «Blick nach vorne» ausweicht.
Versucht man, die vorhandene Fehlerkultur zu überwinden bzw. zu transformieren, beginnt ein (Um-)Lernprozess, und das Ergebnis der Bemühungen endet unter Umständen in einer Kultur der Fehlertoleranz oder der Fehlerfreundlichkeit*, die letztlich Ausdruck einer organisationalen Lernkultur ist.
Aus Fehlern lernt man – seit wann und warum?
Die zunehmenden Bemühungen, sich überhaupt mit nicht intendierten, zielverfehlenden und unerwarteten Handlungsresultaten (im Qualitätsmanagement genauso wie im Arbeitsschutz) zu beschäftigen, ist zwar an sich eine ganzheitspsychologische Position; diese wird jedoch in vielen Ansätzen zum Umgang mit fehlerhaften Arbeitsergebnissen wieder aufgegeben, vor allem jedoch wird sie aufgegeben, wenn es um die Erklärungen von Fehlern geht. Die Ursachen zielverfehlender Handlungen nämlich werden nur allzu oft im Versagen psychischer oder organisationaler Einzelleistungen (Aufmerksamkeit, Kontrollprinzipien usw.) gesehen. Will man jedoch aus dem Fehler lernen oder Erkenntnisse für die Person, die Technik und die Organisation gewinnen, muss am Anfang eine umfassende Analyse durchgeführt und eine verstehende Perspektive eingenommen werden. Zu verstehen gilt es zuallererst, was der Volksmund bereits seit dem 17. Jahrhundert tradiert und was der Wissenschaft einen hehren Anspruch, nämlich den auf Prognostizierbarkeit des Phänomens, durcheinanderwirbelt: Fehler bemerkt man nicht, als biß sie begangen sind.
In den Organisationskonzepten überwiegt nach wie vor die Suche nach Fehlervermeidungsstrategien. Es herrscht eine klassische Gesinnungs- und Normenethik vor. Dass man aus Fehlern lernt, wird heute allenfalls als Entschuldigung, wenn nicht gar als tiefe Resignation, vorgetragen und keinesfalls als Erkenntnisquelle des Handelns erlebt. Die Enttabuisierung fehlerhaften Handelns auf der individuellen, der sozialen und der organisationalen Ebene könnte als eine Revolution der Unternehmenskultur angesehen werden und würde ebenfalls positive Auswirkungen auf gesamtgesellschaftliche Prozesse auslösen.
* Fehlerfreundlichkeit meint eine optimistisch aufklärerische Haltung, die der bewussten Hinwendung zum Fehler und nicht der Abwendung dient.
Verallgemeinerbare Aussagen aus der psychologischen Fehlerforschung
(Theo Wehner, Sicherheit als Fehlerfreundlichkeit, 1992)
– Handlungsfehler treten weder zufällig noch regellos auf. Die Abweichung vom intendierten Ziel ist kein «Nonsensgebilde», Fehler zeigen vielmehr eine «Tendenz zum Richtigen».
– Fehler sind Ausdruck von Fertigkeiten; die Benennung als «Fehler» ist ein soziales und kein strukturanalytisches Urteil.
– Die Vitalität des fehlerhaften Handelns liegt in der Umstrukturierung von Handlungsgewohnheiten und in der Bereitstellung von Handlungsalternativen.
– Der Fehler ist der aussagekräftigste Fall für Handlungsbedürfnisse, Gewohnheiten, soziale Konventionen und situative Gegebenheiten.
– Lebendige und soziale Systeme haben gelernt, die Auswirkungen von Fehlern harmlos zu halten; komplexe technische Systeme führen hingegen häufig zur Enttrivialisierung von Fehlerresultaten.
Theo Wehner
ist seit Herbst 2014 emeritierter Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der ETH Zürich und Gastprofessor an der Universität Bremen (DE). Er studierte – nach abgeschlossener Berufsausbildung und mehrjähriger Angestelltentätigkeit – an der Universität Münster Psychologie und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen. Von 1989 bis 1997 war er Professor für Arbeitspsychologie an der TU Hamburg-Harburg, danach für das gleiche Fach an der ETH Zürich. Einer seiner Schwerpunkte war und ist die psychologische Fehler- und Sicherheitsforschung. Theo Wehner lebt mit seiner Frau in Zürich, seine beiden Kinder leben (wieder) in Deutschland.