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Der Stadtwald

Der Dählhölzliwald leidet. Die Bevölkerung erwartet, dass ihre Ansprüche an die Waldnutzung Vorrang haben. Die vielfältige Nutzung gefährdet jedoch den Lebensraum Wald. Es wäre an der Zeit, wieder vermehrt den Gemeinschaftssinn über die eigenen Interessen zu stellen und mehr Toleranz zu entwickeln.

«Hey, Sie dürfen hier nicht fahren! Steigen Sie gefälligst vom Velo!» Derart angeraunzt schüttelt der behelmte Velofahrer den Kopf und fährt, ohne abzubremsen, mit dem eindeutigen Zeichen eines Fingers an den Kopf vorbei, schliesslich will er nur zum Tennisspielen fahren. «Hallo, Sie da, leinen Sie ihren Hund gefälligst an, er verängstigt die Bisons in der Anlage.» Die Hundehalterin reagiert erschrocken und antwortet flüsternd: «Aber er will die Wisente doch nur begrüssen! Darf er das nicht?» In der Diskussion um das sanierungsbedürftige Ka-We-De fällt stets das Argument: «Das Ka-We-De darf nicht verändert werden, es muss integral erhalten werden, wie es schon immer war.»Der völlig empörte Hundebesitzer ruft beim zuständigen Forstmeister an und meldet: «Mein Hund wurde heute fast von einem herabstürzenden Ast erschlagen. Sie sind ­für die Sicherheit meines Hundes verantwort­lich – tun Sie etwas!»

Nun, wie war es denn schon immer hier im Dählhölzliwald? Ein Blick in die Geschichte hilft. Vor 150 Jahren lag der Dählhölzliwald in einiger Entfernung vom Berner Stadtrand. Das Kirchenfeldquartier war nicht gebaut, und man flanierte über die Felder in den nahen Wald, um sich zu erholen. Der Wald selbst wurde für die Holzgewinnung genutzt und war von Hirsch, Fuchs und Reh besiedelt.

Und heute? Der Dählhölzliwald ist eingemauert, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Bebauungen der Stadt Bern und der Gemeinde Muri haben sich tief in den Rand des Waldes gefressen, und die Nutzungen entsprechen der heutigen Versicherungsmentalität der Bevölkerung. Ein jeder ist der Meinung, seine und nur seine Nutzung habe Vorrang und der Eigentümer möge gefälligst für die Sicherheit aller sorgen. Ähnlich einem Einkaufszentrum, in dem auch keine Zwischenfälle durch herabstürzende Deckenteile vorkämen.

Und der Wald, er leidet. Die planierten Schnellstrassen, vermutlich auch Schmalspurvelo-gängig, und die nötigen Brand­rodungen verhindern die Bodendurchlüftung, und die Bäume gehen zugrunde. Die freie Nutzung der gesamten Fläche durch Spaziergänger und Hunde unterbindet die Lebensfähigkeit der Kleinfauna, von der Waldeidechse bis zum Kammmolch. Die obliegende Verkehrssicherheitspflicht zwingt den Eigentümer zum frühzeitigen Beschnitt oder zur Ausholzung, und totes Holz, wichtig für unzählige Käfer und Würmer, sollte auch aus ästhetischen Gründen schnellstmöglich entfernt werden. Hirsch und Reh gibt es schon lange nicht mehr.Vielleicht ist es an der Zeit, weniger egozentrische Gedanken an die eigene maximale Nutzungsmöglichkeit des Waldes zu verschwenden und sich stattdessen den Interessen zukünftiger Generationen zu widmen?

Ein «Stadtwald» ist eine wichtige Kultureinrichtung für die Bevölkerung. Er ermöglicht reale, naturnahe Erlebnisse in einer Gesellschaft, die sich je länger, je mehr von der Natur entfremdet. Ein «Stadtwald» ermöglicht auch, über die Verweildauer und die Ruhe, eine Besinnung auf uns selbst, fern von der Hektik des städtischen Lebens und dem Hetzen von Termin zu Termin.

Ein «Stadtwald» fordert eines von uns allen: Toleranz. Toleranz der Stadt dafür, dass die Sicherstellung eines wichtigen Kulturguts sie etwas kostet, der Eigentümer muss für die Sicherheit, die gewünscht wird, entlöhnt werden. Toleranz der Hundebesitzer, die ihre Hunde tatsächlich unter ihrem Appell führen, Toleranz der Spaziergänger, die sich nicht gleich von jedem Hund bedroht und von jedem Velofahrer gefährdet sehen sollten, Toleranz der Velofahrer, die sich an die Wege halten und beim Anblick anderer Nutzer abbremsen. Die Liste kann beliebig verlängert werden. Und vielleicht steht am Ende ein Aussichtsturm mit Café mitten im Wald, wo sich alle treffen?


Bernd Schildger

Prof. Dr. med. vet. Bernd Schildger. Seit 1997 Direktor Tierpark Bern (Dählhölzli und Bärenpark)Dozent an der Uni Giessen, Fachbereich TiermedizinMaster in Philosophie und Management, Uni Luzern