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Verantwortung und Leidenschaft
Das Schweizerische Institut für Kunstwissenschaft in Zürich (SIK) verzeichnet jährlich rund 60 verstorbene Kunstschaffende. Was passiert mit ihren künstlerischen Nachlässen, wenn es keine Erben gibt oder niemand in der Familie die Verantwortung für den Nachlass wahrnehmen kann oder möchte?
20.09.2018
Zwanzig Jahre ist es her, dass die Künstlerin Inga Vatter-Jensen (1940–2014) die Idee umsetzte und einen Verein für Nachlässe von Künstlerinnen gründete, die weder Angehörige noch Erben hatten, die sich um ein künstlerisches Œuvre hätten kümmern wollen. Vatter-Jensen erfuhr durch ihre berufliche Arbeit mit Künstlerinnen, wie deren Kunstwerke nach dem Tod oftmals in der Brockenstube landeten oder anderswo verscherbelt wurden. So schuf sie einen Ort der Verantwortung, einen Ort für das treuhänderische Verwalten von Kunstnachlässen. Die Künstlerinnen dankten es ihr und vermachten ihre Werke häufig schon als Vorlass dem Verein und waren glücklich, die Übernahme vor dem Tod geregelt zu wissen.
Der heute noch existierende Verein ArchivArte beherbergt inzwischen über 30 Nachlässe mit rund 10 000 Werken. Die Freude ist jeweils gross, wenn der Verein dem Nachlassgeber eine Zusage erteilen kann. Denn selbstverständlich ist es nicht, aufgenommen zu werden. Es gibt einen Kriterienkatalog, eine Auswahlkommission und einen kritischen Vorstand, denn der gemietete Platz ist rar, und die fachlichen und finanziellen Kapazitäten sind beschränkt. Daher wird die Auswahl für die Aufnahme mit sehr viel Verantwortung getroffen: Es werden neben der Qualität und kunsthistorischen Bedeutung des Gesamtwerkes auch die Umstände und Möglichkeiten einer Übernahme innerhalb der Familie und die grundsätzliche Archivierbarkeit in den Räumlichkeiten von ArchivArte geprüft. Einfach fällt es nie, eine Absage zu erteilen. Nimmt ArchivArte jedoch einen neuen Nachlass an, wird er vollständig inventarisiert, fotografiert und archiviert. Jedes einzelne Blatt, Werk für Werk, wird in die Hand genommen und untersucht. Dadurch werden sowohl die künstlerspezifischen Techniken als auch die Lieblingsmotive oder philosophischen Hintergründe des Œuvres sichtbar.
Der gesamte künstlerische Nachlass im Überblick enthüllt oftmals die ganz persönliche Lebensgeschichte eines Kunstschaffenden. Sämtliche Werke sind in einer Datenbank digital abrufbar. So können sie von Interessierten und Forschenden, für Ausstellungen und Führungen problemlos gefunden und zusammengestellt werden.
Gelangt ein Nachlass kurz nach dem Tod des Kunstschaffenden zu ArchivArte, so ist es eine Selbstverständlichkeit, ihn zeitnah in einer Art Retrospektive in der vereinseigenen Galerie auszustellen. Es liegt in der Verantwortung von ArchivArte, die Nachlässe dann auch weiterhin aktuell zu halten, sie zu zeigen oder zu publizieren. Diese Verantwortung braucht neben dem kunsthistorischen Fachwissen viel Engagement und ein Stück Leidenschaft. Daher wird ein grosser Teil der Arbeit von Freiwilligen geleistet, die für die «gute Sache» – bedeutendes Kulturerbe zu bewahren und der Allgemeinheit zu erhalten – einstehen. Diese verantwortungsvolle Aufgabe erfüllt und vermag den ganzen Zauber eines Nachlasses zu offenbaren, wie man ihn an den Wänden von Galerien oder Museen später nur selten noch erspüren kann.
Buch und Ausstellung
Steffi Göber-Moldenhauer
Verantwortung und Leidenschaft
ArchivArte – Engagement für Kunstnachlässe
Mit einem Vorwort von Christoph Reichenau
88 Seiten, reich bebildert, broschiert, 29 Franken/25 Euro, ISBN: 978-3-7272-1422-6
20 Jahre ArchivArte – Jubiläumsausstellung vom 6. September bis 27. Oktober 2018
Die Schülerinnen der Malschule Max von Mühlenen
Galerie ArchivArte, Breitenrainstrasse 47, 3013 Bern
Zur Person
Steffi Göber-Moldenhauer studierte Kunstgeschichte, Psychologie und Soziologie. Seit 2008 begleitet sie als freie Kunsthistorikerin, Beraterin und Mitarbeiterin den Verein ArchivArte. Sie ist ausserdem Autorin und Co-Autorin diverser Publikationen über Schweizer Kunstschaffende.