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Mehrere Heimaten?

Menschen, die in einem anderen Land leben als dem, aus dem ihre Eltern stammen, haben oft eine etwas andere Vorstellung von Heimat. Wir haben uns mit zwei Stämpflianern darüber unterhalten: mit Ruzica Dragicevic und Igal Mahamoud Abdirisaq, bei uns bekannt als Abdul.

Ruzica Dragicevic

Igal Mahamoud Abdirisaq

Wo kommt ihr ursprünglich her?

Ruzica: Ich komme aus Bosnien, stamme aus einer Mischehe, weshalb meine Familie das Land zu Beginn des Bosnienkriegs verlassen musste. Ich war damals sechsjährig. Da mein Vater bereits in der Schweiz arbeitete, konnte er damals für die ganze Familie Visa besorgen. Aufgewachsen bin ich danach im Wallis, im Mattertal. Meine Familie ist weit verstreut auf beinahe der ganzen Welt, meine Grossmutter und weitere Verwandte leben aber nach wie vor in Bosnien.

Igal: Ich komme aus Somalia. Ich kam vor acht Jahren als Flüchtling in die Schweiz und durchlief die ganzen Asylverfahren. Meine ganze Familie lebt nach wie vor in Somalia, ich habe sie seither nicht mehr gesehen.

Wo siedelt ihr eure Heimat an?

R: Meine Heimat ist ganz klar die Schweiz, ich bin hier aufgewachsen.

I: Ich habe eigentlich zwei Heimaten. Die eine liegt in Somalia, wo ich geboren und aufgewachsen bin und wo meine Familie lebt. Zum andern habe ich meine Heimat hier, wo mein Alltag abläuft, wo ich mir mein Leben aufgebaut habe.

Wie stark sind eure Bindungen zu eurem ursprünglichen Zuhause?

R: Ich bin normalerweise etwa zweimal im Jahr in Bosnien, vor allem wegen meiner Grossmutter, aber auch um alle anderen Verwandten zu sehen. Dass ich wegen Corona meine Grossmutter schon zu lange nicht mehr besuchen konnte, belastet mich, sie ist 87-jährig.

I: Natürlich fehlt mir meine Familie, mein kleiner Bruder war ein Junge, als ich wegging, jetzt ist er ein Mann, und ich habe ihn nicht mehr gesehen. Ich skype oder telefoniere regelmässig, und jeden Sonntag spreche ich mit meiner Mutter und frage sie, was sie gekocht hat – es ist immer noch dasselbe wie damals. Nach Somalia zu reisen, ist nicht ganz ungefährlich, und solange ich keinen Schweizer Pass habe, darf ich das gar nicht, sonst verliere ich meinen Status hier. Aber das ist nun mal so, das muss ich akzeptieren.

Wie stehts um eure Muttersprache?

R: Meine Muttersprache ist Deutsch, mein Vater legte sehr grossen Wert darauf, dass wir Kinder uns schnell integrierten und gute Schulnoten hatten, sodass das Serbokroatisch vorerst in den Hintergrund geriet. Als Teenager habe ich dann aber begonnen, meine «erste» Sprache wieder zu aktivieren und auch die kyrillische Schrift zu erlernen. Mein Wortschatz wird aber nie so gross sein wie im Deutschen.

I: Ich spreche Somalisch. Das ist nach wie vor meine Muttersprache, und ich kann sie auch hier in der WG und mit einzelnen Kollegen pflegen. Daneben habe ich natürlich seit meiner Ankunft intensiv Deutsch gelernt, sonst hätte ich meine Ausbildung hier nicht machen können. Nach wie vor gehe ich zweimal pro Woche in den Deutschunterricht. Auch mit Berndeutsch komme ich ganz gut zurecht.

Was steckt im Begriff «Heimat» in eurer Sprache? In den romanischen Sprachen spricht man ja eigentlich vom «Vaterland».

R: Auf Serbokroatisch steckt ebenfalls das Heim, das Zuhause im Wort.

I: Bei uns ist es das «Mutterland». Das passt auch, denn in unserer Gesellschaft hat die Frau einen hohen Stellenwert.

Wo seht ihr Unterschiede oder Bruchstellen zwischen euren Kulturen?

R: Im alten Jugoslawien war die Gleichstellung viel weiter, als sie noch heute in einigen Regionen Mitteleuropas ist, deshalb war für uns immer selbstverständlich, dass ich eine gute Ausbildung machen konnte. Trotzdem bin ich für meinen Vater immer noch das kleine Mädchen, auf das er aufpassen muss ...

I: Bei uns ist die Religion sehr wichtig, und wer Alkohol trinkt, wird beinahe verstossen von seiner Familie. Da sind meine Eltern natürlich schon gelegentlich besorgt um mich, da mein Umfeld hier so anders ist. Noch mehr ist mein Vater jedoch besorgt, dass man mich radikalisieren könnte. Doch das kommt nicht infrage, ich habe keinen Sinn und keine Zeit für sowas.

Ruzica und Igal, herzlichen Dank für das offene Gespräch!