• Perspektivenwechsel

Im wilden Wandel

Die 225-jährige Firmengeschichte ist ein wilder Ritt durch heftige Umbrüche. Kaum hat die Buchdruckerei Stämpfli 1799 die staatliche Drucklizenz erhalten, geht der alte Staat Bern unter. Das Unternehmen lernt, ohne Staatsaufträge auszukommen. Im Druckereiboom des 19. Jahrhunderts ist es dann voll dabei. Die Stämpfli Gruppe stellt sich auch der jüngsten Herausforderung, der Digitalisierung. Indem sie sich einmal mehr neu erfindet.

Digitalisierung und künstliche Intelligenz krempeln gerade die Welt um. Nie schien ein Umbruch heftiger. So jedenfalls kommt es uns heute vor. Allerdings: Einschneidender technischer und sozialer Wandel gehört zum Lauf der Geschichte. Auch frühere Generationen reagierten darauf erst mit Sorge. Und lernten, dass man an solchen Herausforderungen wachsen kann.

Einschneidender technischer und sozialer Wandel gehört zum Lauf der Geschichte.

Mit dieser Erfahrung von Wandel und Anpassung ist das Berner Kommunikationsunternehmen Stämpfli besonders vertraut. Seit mittlerweile 225 Jahren. Schon der Einstieg ist steil. Als die Firma entsteht, stürzt in Bern gerade die alte Ordnung zusammen. Am 9. Juli 1799 erhält Gottlieb Stämpfli das Druckprivileg des Stadtstaats Bern. Dieser aber ist da schon untergegangen.

Start ins politische Chaos

1798 sind französische Revolutionstruppen einmarschiert und haben die patrizischen Herren von Bern entmachtet. Frankreich verpasst der Eidgenossenschaft eine neue Struktur gleichberechtigter Kantone. So startet Stämpfli in eine neue Ära mit unübersichtlichen Besitzverhältnissen und neuen Regeln.

Vor dem Umsturz war das Druckgeschäft in Bern überschaubar. Der Inhaber des Druckprivilegs durfte in den Räumen der Staatskanzlei an der oberen Postgasse Gesetze, Kirchenbücher oder Bibeln drucken – als einziger. 1799 aber ist das staatliche Druckmonopol bereits ein Auslaufmodell.

Die von Frankreich diktierte helvetische Verfassung bringt das Ende der staatlichen Zensur. Im Kanton Bern werden in der Folge 28 neue Zeitungen gegründet. Historiker Christian Lüthi spricht im Geschichtsbuch «Berns moderne Zeit» im Kapitel über das grafische Gewerbe von einem «Aufschwung der Druckereibranche». Kaum ist die Firma Stämpfli entstanden, hat sie schon Konkurrenz.

Lukrativer Auftrag

1807 trifft ein Schicksalsschlag das Unternehmen: Gottlieb Stämpfli stirbt vorzeitig. Seine Witwe, Marie Albertine Stämpfli-Ernst, übernimmt das Geschäft. Als die Berner Patrizier nach dem Sturz von Frankreichs Herrscher Napoleon noch einmal ein Comeback schaffen, entziehen sie Marie Albertine 1815 das Druckprivileg und vergeben es an einen Konkurrenten.

Die Firma muss nun aus der Staatskanzlei ausziehen. Sie verlegt ihre Druckaktivitäten an die Postgasse 60, in die Räume, in denen sich heute das Möbelgeschäft «Zona» befindet. Marie Albertine Stämpfli-Ernst zieht bald einen lukrativen Auftrag an Land: die Lizenz zum Druck von Kalenderzeitschriften. Das Flaggschiff ist der «Hinkende Bot». Noch heute bringt der Stämpfli Verlag den traditionsreichen Kalender alljährlich heraus.

1831 muss das Patriziat abdanken und liberalen Kräften aus den Berner Landstädten Platz machen. Der Kanton Bern erhält seine erste halbwegs demokratische Verfassung, die die Niederlassungs- und Wirtschaftsfreiheit privater Unternehmen gewährt.

Gier nach Gedrucktem

Die neuen Behörden erlassen Gesetze, bauen eine Verwaltung auf, führen die obligatorische Volksschule ein. Konkurrierende politische Lager gründen Publikationen. Alle diese demokratischen Player wollen ihre Positionen in der nun vielstimmigen öffentlichen Debatte zu Papier bringen. Der demokratische Aufbruch lässt die Nachfrage nach Gedrucktem explodieren. Der Kanton Bern erlebt eine Gründungswelle von Druckereien und Medien.

Stämpfli reitet vorne mit auf der Druckwelle.

Als Marie Albertine Stämpfli-Ernst 1828 die Geschäfte an ihren Sohn Carl Samuel übergibt, hat sich die Firma so emanzipiert, das sie nicht mehr von einem staatlichen Monopol, sondern von Aufträgen lebt. 1812 reagiert die Drucktechnik mit der Erfindung der Schnellbogenpresse auf die wachsende Nachfrage. Die neuen Maschinen mit rotierenden Walzen automatisieren den Druck. 1845 lässt Carl Samuel Stämpfli mit 14 Pferdefuhrwerken aus Süddeutschland eine Schnellbogenpresse nach Bern an die Postgasse karren. Mit dem Entwicklungstempo der Druckbranche kann er nun Schritt halten. Die Firma reitet vorne mit auf der Druckwelle.

Umzug ins Industriequartier

1857 wird die Bundesstadt Bern an das Eisenbahnnetz angeschlossen, das die Industrialisierung ankurbelt. Bern wandelt sich, die Stadt wird grösser, geschäftiger, liberaler. Stämpfli ist auf Expansionskurs. Der neue Firmeninhaber Karl Stämpfli zieht 1877 aus den zu eng gewordenen Räumen an der Postgasse aus in einen neuen Fabrikbau an der Hallerstrasse in der Länggasse. Diese ist mittlerweile zu einem Industriequartier geworden, in dessen Fabriken Hunderte Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigt sind.

Die Geschäfte laufen gut für Stämpfli. Ab 1888 druckt die Firma die «Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht». Es ist eine weitsichtige Strategie, in der Hauptstadt der Gesetzgebung die juristische Literatur als Standbein aufzubauen. Später erwächst daraus der Stämpfli Verlag. 1891 setzt Karl Stämpfli auf die wachsende Mobilität und publiziert mit dem «Conducteur» einen Eisenbahnfahrplan. Ab 1905 heisst dieser neu «Kursbuch» und erscheint unter der Ägide der neu formierten SBB. Stämpfli druckt das legendäre Nachschlagewerk bis 1996.

Die soziale und die Geschlechterfrage

1894 stirbt Karl Stämpfli viel zu früh. Seine Witwe, Emma Stämpfli-Studer, übernimmt. Obwohl es das damals offiziell gar nicht gibt, ist sie wohl Berns erste Unternehmerin. Die Gleichberechtigung der Frauen kommt mit dem Frauenstimmrecht erst über 70 Jahre später. Aber die charismatische Stämpfli-Chefin trotzt allen Widerständen.

Obwohl es das 1894 offiziell gar nicht gibt, ist Emma Stämpfli-Studer wohl Berns erste Unternehmerin.

Nach Boomjahren übersteht Stämpfli während der Weltkriege und in der Weltwirtschaftskrise Absatzeinbussen und Arbeitslosigkeit. Armut gibt es direkt vor dem Fabriktor: Im Industriequartier Länggasse schlafen unbeaufsichtigte Kinder bisweilen auf den Gehsteigen. 1903 eröffnet Emma Stämpfli-Studer für die Angestellten deshalb an der Länggassstrasse Berns eine erste Kinderkrippe. 1906 übergibt sie das Geschäft an ihre Söhne Wilhelm und Rudolf.

Mit dem neuen, farbigen Offsetdruck schreitet die Automatisierung voran. Die schweren Druckplatten im Bleisatz haben ausgedient. Ab 1967 gehen Samuel und Jakob Stämpfli als Pioniere noch einen Schritt weiter. Schon vor der Erfindung des Tischcomputers kann man bei Stämpfli auf EDV-Bildschirmen eine ganze Druckseite als Vorlage sehen. Es ist der Anfang der Digitalisierung.

Erstmals schrumpft das Geschäft

Ab den 1990er-Jahren macht das Internet dem Papier Konkurrenz. Grosse Volumen wandern ab 2010 ins Ausland ab, wo die Druckkosten tiefer sind. Es ist eine ganz neue Herausforderung: Das vorher explodierende Geschäft schrumpft auf einmal. Die Schweizer Druckbranche gerät in die Krise.

Stämpfli erfindet sich wieder neu. Es wird vom reinen Druck- zum Kommunikationsunternehmen mit Verlagsaktivitäten. Den ganzen Prozess von der digitalen Vorlage bis zum Druckprodukt bietet es aus einer Hand an. Sein digitales Angebot ist heute bedeutender als das gedruckte. Auch geografisch reagiert die Stämpfli Gruppe auf die Veränderung. Die Firma verlässt das Länggassquartier, in dem einstige Fabriken zu Dienstleistungs- und Bildungsorten werden. 2003 bezieht Stämpfli an Berns Stadtrand sein neues Firmengebäude an der Wölflistrasse.

Brücken zwischen Tradition und Zukunft

Seit über 300 Jahren berichtet der «Hinkende Bot» Jahr für Jahr über das Zeitgeschehen im Kanton Bern, in der übrigen Schweiz und in der ganzen Welt. Als sich Marie Albertine Stämpfli-Ernst Anfang des 19. Jahrhunderts das Kalenderprivileg sichert, legt sie damit den Grundstein für die eigenen Verlagsprodukte.

Stefan von Bergen
Historiker und Journalist