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Orte der Erinnerung

Die Bezeichnung «in Bewegung» könnte für Claude Gerzner nicht treffender sein. Als fahrender Jenischer ist die Bewegung, der ständige Ortswechsel, Teil seines Lebens. Und durch die Proteste diesen Frühling ist auch im übertragenen Sinne einiges ins Rollen gekommen.

Die grüne Rasenfläche vis-à-vis des Berner Stämpfli Gebäudes gehört zu den wenigen Stadtparzellen, die noch unbebaut sind. Ab und an dient sie als Parkplatz, wie diesen Frühling während der BEA. Zeitgleich und unweit des Messegeländes versammelten sich Ende April auf der kleinen Allmend Jenische aus der ganzen Schweiz zur grössten Demonstration seit den 1980er-Jahren. Initiiert vom Verein «Bewegung der Schweizer Reisenden» wurden Forderungen laut nach mehr Durchgangsplätzen, denn von den 43 Plätzen in der ganzen Schweiz waren lediglich 12 benutzbar. Die Demonstration hat nicht nur ein mediales Echo erzeugt, sondern auch einen neuen Durchgangsplatz ermöglicht: Diesen Mai durften die Jenischen ihre Wohnwagen auf der Parzelle an der Wölflistrasse parken. Bis Ende August hat die Stadt die Aufenthaltsbewilligung zugesprochen. Als Mitinitiant und Pressesprecher der «Bewegung der Schweizer Reisenden» hatte Claude Gerzner in letzter Zeit viel um die Ohren.

Herr Gerzner, wie sieht eigentlich ein gewöhnlicher Tag bei Ihnen aus?

Ich stehe um 7 Uhr auf, frühstücke und bereite mich auf den bevorstehenden Tag vor. Ich bin von Beruf Textilhändler und gehe tagsüber hausieren. Momentan kommen meine beiden Söhne, 10- und 13-jährig, mit, um einen Einblick in meinen Beruf zu bekommen. Sie sollen später bei mir die Lehre absolvieren. Abends gehe ich mit meiner Frau einkaufen, und anschliessend gibt es Abendessen. Bei gutem Wetter kommt es vor, dass wir uns beim Lagerfeuer treffen. Ende Woche gilt es dann auch, die bevorstehende Route zu planen und anzufragen, wo wir als Nächstes wohnen können.

Gab es in den letzten Monaten überhaupt so etwas wie Alltag? 

Nein, nicht wirklich. Neben meiner Arbeit stand ich während der Demonstration den Medien Rede und Antwort.

 

Warum kam es zur Demonstration?

Jahrein, jahraus haben wir Probleme wegen Durchgangsplätzen. Anfangs wird uns Platz versprochen, der uns dann anschliessend wieder abgesprochen wird, weil wir den Behörden nicht ins Konzept passen. Wir haben genauso ein Anrecht auf einen Platz in diesem Land, schliesslich bezahlen wir Steuern und AHV. Wir sind Schweizer Bürger. Dass wir diesen April den versprochenen Platz auf der Allmend räumen mussten, brachte das Fass zum Überlaufen.

Wie lebt es sich heute als Jenischer in der Schweiz?

Die Situation hat sich in letzter Zeit sehr verbessert. Zwar werden wir noch heute nicht selten als Kriminelle diskriminiert, die Demonstration im Frühling aber hat die Schweizer Bevölkerung ein wenig wachgerüttelt. Seither besuchen uns Ansässige auf den Durchgangsplätzen und unterstützen uns in unseren Forderungen. Das freut uns sehr! Ansonsten aber leben wir unter uns.

Claude Gerzner

Könnten Sie sich vorstellen, auf den Wohnwagen zu verzichten?

Ich bin als Fahrender geboren und werde als Fahrender sterben. Jeder Ort, an dem wir wohnen, ist mit Erinnerungen verbunden. In Schaffhausen hatten wir früher einen Durchgangsplatz, der uns jetzt nach langer Sperre wieder zugesprochen wurde. Dort wieder zu wohnen, war eine wunderschöne Erfahrung. Meine Frau und ich haben vor 20 Jahren auf diesem Platz geheiratet.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Mein Grossvater war während der nationalsozialistischen Diktatur im Konzentrationslager, meiner Mutter wurden im Rahmen der Pro-Juventute-Aktion «Kinder der Landstrasse» die Kinder weggenommen (siehe Infobox). Zwar geht es uns heute viel besser, dennoch müssen wir uns immer wieder mit den Behörden rumschlagen und auf unseren Rechten bestehen. Meinen Kindern wünsche ich einfach nur ein ruhigeres Leben. 


Steiniger Weg

Hierzulande leben bis zu 35 000 Jenische, eine kulturelle Minderheit von Schweizerinnen und Schweizern, wovon bis zu 5000 fahrend sind. Bis in die 1970er-Jahre wurde immer wieder versucht, Menschen mit fahrender Herkunft sesshaft zu machen. Zwischen 1926 und 1973 wurden etwa mit der Aktion «Kinder der Landstrasse» von Pro Juventute über 600 jenische Kinder in Pflegefamilien und Heime gesteckt mit dem Ziel der «gesellschaftlichen Umerziehung». Seit 1998 sind die Jenischen in der Schweiz als nationale Minderheit rechtlich anerkannt.