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Legal Tech rockt: Ist die Maschine der bessere Anwalt?

Ein Computer hat sich 2018 in London mit 112 Rechtsanwälten gemessen – und gewann. Textverarbeitung, Zahlenanalysen, Schach: Im Kampf Maschine gegen Mensch erobert die Technik ständig neue Arbeitsfelder und zeigt dem Menschen regelmässig seine Grenzen.

Die Kontrahenten in London mussten Versicherungsfälle bearbeiten. Und der Computer hatte die Nase vorn: sowohl in der Anzahl der bearbeiteten Fälle – das verwundert wenig, denn Anwälte schlafen nachts – als auch in der Anzahl der richtigen Beurteilungen. Sind Computer die besseren Anwälte? Drei Studenten der University of Cambridge wollten die Leistungsfähigkeit der künstlichen Intelligenz (AI, Artificial Intelligence) ermitteln und organisierten einen ungewöhnlichen Wettbewerb: Sie liessen 112 Londoner Anwälte gegen die künstliche Intelligenz «Case Cruncher Alpha» (Fall-Knacker Alpha) antreten. Die Maschine gewann die «Lawyer Challenge» haushoch.

Das Experiment

Während einer Woche bearbeiteten die Anwälte anonymisierte britische Versicherungsfälle. Dieselben Fälle hatte zuvor der Ombudsmann beurteilt und überprüft, ob ein Versicherungsanspruch besteht. «Case Cruncher Alpha» erhielt in derselben Zeit die gleiche Aufgabe.Während die Anwälte am Ende der Woche zusammen 775 Fälle einreichen konnten, ackerte sich der Computer durch alle ihm gefütterten Fälle: insgesamt 23 291.

Computer schlägt Anwalt

Der Computer war aber nicht nur effizienter, er hatte auch die höhere Erfolgsquote. Er entschied 21 174 Fälle (86,6 Prozent) so, wie es der Ombudsmann bei seiner Prüfung im Vorfeld gesehen hatte. Die 112 Anwälte kamen auf eine klägliche Erfolgsquote von 62,3 Prozent.

Ist «Case Cruncher Alpha» also eine echte Konkurrenz für Anwälte oder sogar für Richter? Ludwig Bull, das wissenschaftliche Hirn hinter der «Lawyer Challenge», winkt ab. Aber die künstliche Intelligenz (AI) biete eine neue Bewertungsmethode, eine Art neue Benchmark. Was in den Gerichtssälen passiere, könne so quantitativ durchleuchtet werden, nicht nur durch Sprache, sondern auch durch Mathematik, erklärt Bull im Interview. Zwar sei die Aufgabe recht schematisch (also perfekt auf die Fähigkeiten eines Computers zugeschnitten) gewesen, gibt Bull zu, aber bei solch einfachen Routineaufgaben wie dem Prüfen von Verträgen sei der Computer unschlagbar gut. Hier könne die AI in Zukunft die Anwälte unterstützen – damit sich diese auf komplexe juristische Fragen konzentrieren könnten.

Legal Tech 3.0

Anwendungen, die juristische Arbeitsschritte nachbilden oder selbstständig ausführen, bezeichnet man als Legal Tech 2.0: Das Sichten, Sortieren und Archivieren von Verträgen und Klageschriften durch Computer ist bereits weiter fortgeschritten und wird von verschiedenen Start-up-Unternehmen angeboten. Die Herausforderung hierbei ist es, dem Computer die juristischen Kategorien anzutrainieren (Machine Learning): Hier sitzen meist Jurastudierende mit Computerlinguisten zusammen und trainieren den Algorithmus darin, die juristischen Formulierungen in einem Vertrag in Bits und Bytes zu übersetzen. Bekanntestes Beispiel hierfür ist die Online-Plattform flightright.de, bei der man die Daten seines verspäteten Flugs eingibt und der Computer damit die angemessene Entschädigung bei den Fluglinien erstreitet. Über 5 Millionen Mal soll der Dienst in den letzten Jahren genutzt worden sein – mit einer Erfolgsquote von 99 Prozent.

Die nächste Stufe Legal Tech 3.0 setzt dann schon ein Kommunizieren der Computer untereinander voraus. Hier entstehen Produkte wie eigene Währungen (Bitcoins u.ä.) oder Smart Contracts («schlaue Verträge»). Die Herausforderung ist es, die juristische Logik in Computersprache umzusetzen. Wenn dies gelingt, können Firmen untereinander in Zukunft ihre Verträge als Smart Contracts abschliessen – dann wird der Computer zum Beispiel nach der Lieferung der Ware entscheiden, ob und wie viel Geld überwiesen werden muss.

Justitia 4.0

Der Schweizer Staat möchte ebenfalls viele Vorgänge digitalisieren: So sollen die Bürger in Zukunft viele Behördengänge über ein Online-Portal erledigen können. Am ambitioniertesten erscheint das Projekt Justitia.Swiss: Aufbauend auf eine elektronische Akte sollen alle Dokumente, Vermerke und Vorgänge eines Gerichtsverfahrens elektronisch gespeichert und ausgetauscht werden. Über ein zentrales Eingangsportal haben dann die Prozessbeteiligten (Richter, Anwälte, Behörden usw.) Einblick in die für sie relevanten Einträge, aber eben nur in diese.

Auch in nächster Zukunft wird man Rechtsanwälte und Richter brauchen, aber der Computer wird ihnen langweilige Routinetätigkeiten abnehmen, sodass sich der Anwalt auf die Arbeiten konzentrieren kann, für die er jahrelang studiert hat.

New Suits

Im April 2019 erscheint im Stämpfli Verlag «New Suits», ein Buch, das die Chancen von Legal Tech auslotet: Die Autoren Günter Dobrauz und Michele DeStefano haben wichtige Player der Legal-Tech-Szene versammelt und geben ein genaues Bild, welche juristischen Entscheidungen und Workflows in Zukunft die künstliche Intelligenz übernehmen wird.

Das Cover des Buchs wurde von Tom Jermann gestaltet, der uns im Januar im Verlag besucht hat. Tom kommt aus Bern, lebt heute in Los Angeles und hat unter anderem das Cover der Platte von Jonny Cash gestaltet.