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Barrieren aufheben

Die meisten von uns kennen das Sender-Empfänger-Modell, das unsere Kommunikation beschreibt. Demzufolge läuft ein Gespräch zwischen zwei Menschen nach dem folgenden Schema ab: Eine Nachricht wird in Worte verschlüsselt und mithilfe der Sprache akustisch übermittelt. Die empfangende Person hört die Nachricht und entschlüsselt sie. Danach beginnt das ganze Spiel von vorn. Was aber ist mit Personen mit einer Hörbehinderung, die die akustischen Signale nicht hören können? Sie müssen auf die visuelle Kommunikation – Gebärdensprache oder Schrift – ausweichen, damit die Kommunikation nicht abbricht. Da aber gerade Gebärden in unserer Gesellschaft nicht gut etabliert sind, müssen sich die betroffenen Personen grossen Herausforderungen stellen, die in allen Lebensbereichen bemerkbar sind.

Interview mit Ruedi Graf, Regionalleiter und Mitglied der Geschäftsleitung beim Schweizerischen Gehörlosenbund

Ruedi, wie kommunizierst du mit Menschen, die keine Gebärdensprache sprechen?

Wir Gehörlose lernen in der Schule die gesprochene und die geschriebene Lautsprache, beherrschen diese aber unterschiedlich gut. Das Gegenüber versuchen wir zu verstehen, indem wir Lippen lesen. Gelingt das nicht, weichen wir auf die Schrift aus. Es gibt also immer einen Weg, Kommunikation herzustellen. An Veranstaltungen oder bei wichtigen Gesprächen setze ich einen Gebärdensprachdolmetscher ein, etwa im Spital, auf dem Amt oder an Weiterbildungen. Da möchte ich nichts verpassen – Informationen sind für mich genauso wichtig wie für alle anderen auch.

Wie hast du deine Schulzeit erlebt?

Die Schulzeit habe ich in St. Gallen und in Zürich, wo es die einzige Sekundarschule für Gehörlose in der Deutschschweiz gibt, verbracht. Das Lernen zusammen mit anderen Gehörlosen war für meine persönliche und soziale Entfaltung unglaublich wertvoll. Allerdings wurde damals an der Schule keine Gebärdensprache verwendet, und in der Pädagogik wurde darüber gestritten, ob Bildung mit oder ohne Gebärdensprache sinnvoller sei. Heute weiss man: Gehörlose Menschen, insbesondere Kinder, die beide Sprachen beherrschen, sind allgemein selbstständiger und selbstbewusster und haben eine hohe Resilienz. Es war damals ein grosser Fehler der Pädagogik, den gehörlosen Menschen die Gebärdensprache wegzunehmen. Vor einem Jahr haben sich alle Gehörlosenschulen in der Deutschschweiz offiziell für diesen Fehler entschuldigt.

Nach der Schule kommt die Berufswahl. Welche Möglichkeiten gibt es für gehörlose Personen?

Die Berufsauswahl ist sehr gross. Einschränkungen gibt es dort, wo die direkte Kommunikation zentral ist oder man viel telefonieren muss. Die Website der Berufsschule für Hörgeschädigte bietet dazu viele Informationen (www.bsfh.ch). Schwieriger wird es im Studium und bei Weiterbildungen. Gehörlose Menschen haben kognitiv die gleichen Fähigkeiten wie alle anderen, aber die technischen und sprachlichen Hilfen – etwa Schrift- oder Gebärdensprachdolmetscher – sind oft teuer, und die Umsetzung der Massnahmen hängt von der Bereitschaft der Hochschulen, Ausbildungsstätten und Firmen ab, diese Kosten für einen barrierefreien Zugang auf sich zu nehmen. Hier besteht Handlungsbedarf, damit die Chancengleichheit hergestellt werden kann.

Ruedi Graf stellt sich vor

Im Alter von vier Jahren bin ich aufgrund einer Hirnhautentzündung (Meningitis) ertaubt. Seitdem habe ich kein Restgehör, die Hörnerven sind «durchgebrannt». Heute bin ich 61 Jahre alt – davon war ich vier Jahre Teil der hörenden Gesellschaft.

Gelernt habe ich Schreiner, aber schon früh interessierte ich mich für gesellschaftliche und politische Themen – deshalb schlug ich nach meiner Lehre eine neue Laufbahn ein: eine Ausbildung im Bereich Sozialarbeit, Fokus soziokulturelle Animation mit einer Weiterbildung im NPO-Management.

Ich bin ein Sportfan – schon in meiner Jugend habe ich sehr aktiv Sport getrieben. Seit 2007 spiele ich Curling, nehme an Meisterschaften und Turnieren teil. Ich bin Teil der Gehörlosen-Curling-Nati. Wir waren an der Gehörlosen-Curling-Weltmeisterschaft, der Gehörlosen-Curling-Europameisterschaft und den Deaflympics. Zudem bin ich seit meiner Kindheit ein grosser Fan des FC St. Gallen.

Meine Ehefrau ist ebenfalls gehörlos, und wir haben drei tolle Töchter. Alle beherrschen die Gebärdensprache. Menschen wie sie bezeichnet man als CODA (children of deaf parents).

Barrierefreiheit ist ja häufig im Zusammenhang mit der Digitalisierung ein Thema, das wegen der Coronapandemie stark in den Fokus gerückt ist. Hat sich für dich während dieser Zeit etwas verändert?

Die Pandemie hat viele Hindernisse sichtbar gemacht, aber auch neue Lösungen geschaffen. Ich denke zum Beispiel an Zoom-Meetings: Wir konnten uns visuell verständigen und digital treffen, auch wenn es anstrengend ist, sich über längere Zeit auf die kleinen Bilder zu fokussieren. Diese Online-Meetings offenbaren auch die vielseitigen Möglichkeiten in der Zusammenarbeit mit Gehörlosen. In der Pandemiezeit ist die Gesellschaft dank der Präsenz der Dolmetscher während der Medieninformationen des BAG und des Bundesrats sensibilisiert worden.

Wie eigenständig kannst du deinen Alltag gestalten? 

Gehörlose Menschen brauchen im Prinzip keine Begleitung. Wir sind mobil und auch sehr selbstständig. Wenn uns die Kommunikation dann doch einmal einschränkt, nehmen wir Gebärdensprachdolmetscher dazu. Die meisten von uns pflegen einen sehr intensiven Kontakt zu anderen Gehörlosen und sind in den Gehörlosenvereinen aktiv. Da fühlen wir uns wohl und zu Hause, leben unsere Gehörlosenkultur.

Was sollte sich deiner Meinung nach im Umgang mit gehörlosen Menschen und bei deren Integration ändern?

Wir erfahren immer noch sehr viele Barrieren beim Zugang zu Informationen, in der täglichen Kommunikation und bei der gesellschaftlichen und kulturellen Teilhabe. In den letzten Jahren haben wir Fortschritte erzielt: Es gibt immer öfter Sendungen mit Gebärdensprachdolmetsch-Einblendungen und kulturelle Veranstaltungen mit Übersetzungen. Ein wichtiges Ziel ist die gesetzliche Anerkennung der Gebärdensprache als offizielle Sprache. Es ist wichtig, dass die Menschen uns und unsere Kultur respektieren, sie verstehen und sich für uns interessieren. Wir können die Gesellschaft bereichern und wollen Teil von ihr sein. Es ist leider so: Nicht die Gehörlosigkeit, sondern die Gesellschaft behindert uns.

Möchtest du uns Hörenden noch etwas mitteilen?

Kommt ohne Hemmungen auf uns zu – euer Interesse freut uns. Und wir können unser Zusammenleben gegenseitig bereichern.

Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Gehörlosenbund

Als ich den Jahresbericht für den Schweizerischen Gehörlosenbund layoutete, arbeitete ich das erste Mal mit einer Kundin zusammen, mit der ich nicht wie gewohnt kommunizieren konnte. Christa Notter, meine Ansprechpartnerin für diesen Auftrag, ist nämlich gehörlos. 

Das Kennenlernen und die ersten Termine mit Christa liefen über Videocalls, wobei ein Dolmetscher in Echtzeit übersetzte. Der grösste Teil der Kommunikation geschah danach per E-Mail. Ich musste darauf achten, dass alles schriftlich ganz klar kommuniziert wurde, da ich Christa nicht einfach zwischendurch anrufen konnte, um etwas zu besprechen. Deshalb las ich mir meine E-Mails immer dreimal durch. Spätere Auftragsbesprechungen fanden per Videocall, aber ohne Dolmetscher statt. Ich teilte meinen Bildschirm mit ihr, damit ich den aktuellen Stand des Layouts aufzeigen konnte, während wir gleichzeitig per Chat miteinander sprachen.

Einmal, als mir Christa eine dringende Information übermitteln musste, hat sie mithilfe eines speziell für gehörlose Menschen angebotenen Dienstes angerufen. Dieser führt für sie Telefonate, wenn es besonders schnell gehen muss. Uns wurde dann erzählt, dass gehörlose Menschen diese Option auch nutzen, wenn zum Beispiel ihr Haus brennt oder bei anderen Notfällen, bei denen wir hörenden Menschen zum Telefon greifen.

Insgesamt war es für mich eine spannende Erfahrung, bei einem Projekt nicht nur die üblichen Herausforderungen wie das Erstellen eines Zeitplans oder die Umsetzung in drei Sprachen meistern zu müssen, sondern auch zu lernen, auf eine andere Art zu kommunizieren.

Saskia Wittwer
Lernende Polygrafin, 4. Lehrjahr
Stämpfli Kommunikation
+41 31 300 68 68