Wie wir Armenier wurden

Was Armenierinnen und Armenier in der Schweiz zusammenhält, beschreibt die Autorin Manuschak Karnusian in ihrem Porträtbuch «Unsere Wurzeln, unser Leben». Und zwar so eindringlich und lebensfroh, dass Co-Autor Jürg Steiner während seiner Arbeit selber Armenier wurde.

Dass es Armenierinnen und Armenier gibt, wurde mir zum ersten Mal vor ungefähr 25 Jahren bewusst. Ich lernte Manuschak kennen und stand danach gefühlte 10000 Mal daneben, als sie die Herkunft ihres ungewöhnlichen Namens erklärte – und fast immer fragende Blicke erntete. Armenisch? Keine Ahnung. Ab und zu las man damals immerhin etwas in der Zeitung – im Gegensatz zu den Jahrzehnten zuvor, während deren die Armenier totgeschwiegen wurden. An ihnen wurde zwischen 1915 und 1923 ein Völkermord verübt. 1,5 Millionen Armenier starben, fast das ganze Volk, und die Überlebenden verstreuten sich in der ganzen Welt. Auch jetzt, 100 Jahre danach, weigern sich die Regierungen vieler Staaten aus Rücksicht auf die Türkei, ihn anzuerkennen. Die grosse Katastrophe prägt jede armenische Familiengeschichte. Doch man vergisst manchmal, dass Armenierinnen und Armenier in der Schweiz nicht nur Nachfahren von Überlebenden des Völkermords sind, sondern Menschen, die hier und jetzt unter uns leben. Und in deren Gesellschaft man aufblühen kann. Wie ich. Etwas wurde mir sofort klar: Armenier – und Armenierinnen – sind aussergewöhnliche Menschen. Und zwar nicht erst, seit ein Armenier den Bancomaten erfunden hat. Sie waren es schon immer. Bereits in der Steinzeit, haben Archäologen kürzlich herausgefunden, waren es Armenier, die mit der Weiterentwicklung des steinernen Faustkeils die menschliche Zivilisation vorwärtstrieben. Obwohl es Armenier zu dieser Zeit streng genommen noch gar nicht gab. Was aber Tatsache ist: Die Armenier waren der Zeit voraus. Armenischen Pionieren verdankt die Menschheit die ersten Züchtungen von Getreide, die köstliche Frucht der Aprikose – und den Wein. Besonders imponiert mir, dass sich die Armenier eine eigene Sprache und Schrift gegeben haben, die bis heute überlebt. Die 38 Buchstaben des armenischen Alphabets hätten, schrieb einst ein armenischer Autor wunderschön, «die armenische Identität verteidigt wie wackere Soldaten». Armenische Züge bemächtigten sich auch meiner Identität. Ich bin eigentlich eher ein Schweiger. Aber plötzlich sass ich am Tisch mit Armeniern, die alle kommunikativ in einer anderen Liga spielen als ich. Sie reden viel, laut und ohne Ende. Und haben immer Recht. Was für eine Challenge! Demgegenüber habe ich eine andere typisch armenische Eigenschaft rasch verinnerlicht: Armenier zu sehen, wohin man blickt. Gregory Peck, der Schauspieler, Andre Agassi, der Tennisspieler, Alain Prost, der Autorennfahrer, Garry Kasparow, der Schachspieler, Artur Abraham, der Boxer, Charles Aznavour, der Chansonnier, Cher, die Sängerin, und natürlich die Reality-Queen Kim Kardashian. Alles Armenier, überall Armenier. Sogar Steve Jobs, der verstorbene Übervater von Apple, hatte armenische Stiefeltern und sprach offenbar armenisch. Halten wir fest: iPhone, iBook und iPad sind armenische Erfindungen. Einverstanden? Ich gebe zu, dass es diese armenische Eigenschaft ist, die mich am meisten inspiriert: die liebevolle Kunst der Übertreibung. Manuschak Karnusians Porträts sind für mich ein Geschenk. Sie sind ein Plädoyer für armenische Grosszügigkeit und Lebensfreude. Und sie machen mich definitiv zum Armenier. Für immer. 


12 Porträts, 12 Leben

Rund 6000 Armenierinnen und Armenier leben in der Schweiz, viele von ihnen in der Romandie. Zwölf von ihnen besuchte Autorin Manuschak Karnusian, sie sprach mit ihnen über ihre Familiengeschichte, ihren Weg in die Schweiz, ihr Leben heute. Die Archäologin aus Syrien, der Spion aus Ägypten, der Unternehmer aus Kanada – alle Armenier, aber kein Leben gleicht dem anderen. Die Autoren Manuschak Karnusian und Jürg Steiner leben mit ihren Kindern in Mittelhäusern (Köniz).