Wie aus Wellen Monsterwogen wurden
20 Reporter und Reporterinnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz erzählen im neuen Sammelband «Wellen schlagen» von amüsanten oder unerwarteten Folgen, die eine ihrer Reportagen hatte. Ein Autor freilich nahm den Titel allzu wörtlich.
20.03.2019
So rasch hatte es wohl noch kein Stämpfli Titel in die Schlagzeilen der nationalen und internationalen Medien geschafft. Kaum war der Sammelband «Wellen schlagen» über die Wirkung von Reportagen im Dezember erschienen, wurde das Buch gleich dutzendfach von den Medien erwähnt. Grund dafür war der Beitrag von «Spiegel»-Reporter Claas Relotius. Wie alle im Buch versammelten Autoren aus der Schweiz, Österreich und Deutschland hatten wir auch ihn um einen Text zum Thema gebeten: Welche Ihrer Storys hatte überraschend gute, skurrile oder vielleicht gar schlimme Folgen? Relotius’ Vorschlag kam postwendend: «Die Königskinder», erschienen 2016 im «Spiegel». Tatsächlich erfuhr die Geschichte ein Happy End, von dem jeder Journalist nur träumen kann. Dank Relotius’ Recherchen fanden zwei im Krieg getrennte syrische Geschwister wieder zueinander und wurden von einem deutschen Ärzteehepaar in Deutschland adoptiert. Unter dem Titel «Ahmed, Alin und das Schicksal» beschrieb er für unser Buch auf anrührende Weise, wie er dank unermüdlichen Bemühungen die Waisenkinder zusammengeführt, von der Strasse geholt und von Sklavenarbeit befreit hatte.
Eine Woche nach unserer Buchvernissage im Zürcher «Cabaret Voltaire» am 12. Dezember 2018 platzte das System Relotius. In einer beispiellosen, von Wut, Empörung und Enttäuschung getriebenen Aufräumaktion deckte der «Spiegel» auf: Die meisten Reportagen ihres Starreporters waren manipuliert, gefälscht, aufgepeppt oder gar total erfunden. Und: Auch andere angesehene Zeitungen und Magazine outeten sich als Relotius-Opfer, darunter die NZZ und der «Tages-Anzeiger», die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» und die «Süddeutsche Zeitung».
Erst hegten wir noch Hoffnung für unsern eigenen Relotius-Text: Im «Spiegel»-Verhör hatte Relotius auf der Echtheit seiner «Königskinder» bestanden. Doch der Fotograf, der ihn bei seinen Recherchen in der Türkei begleitet hatte, erzählte eine andere Geschichte. Der Bub Ahmed war keinesfalls ein Waisenkind, sondern wohnte bei seiner Mutter. Auch hatte er keine Schwester, die in einer unterirdischen Näherei schuftete. Das Mädchen, das Relotius dem «Spiegel» als Alin präsentierte, hatte er selbst fotografiert und konnte bislang nicht identifiziert werden.
Der Skandalfall Relotius erschütterte die gesamte deutschsprachige Medienwelt. Bald wurde auch unser Buch «Wellen schlagen» mit besonderem Interesse gelesen. Denn in seinem Beitrag beschrieb Relotius ausgiebig, wie er die Spendengelder der Leser auf sein Privatkonto überweisen liess. Dies, um den Geschwistern die Reise nach Europa zu ermöglichen. Doch die Spenden kamen nie bei den Kindern an und die Kinder nie in Deutschland.
Lange haben wir überlegt, wie wir mit Relotius’ Beitrag umgehen sollen. Schwärzen? In künftigen Auflagen streichen? Schliesslich beschlossen wir: Die Geschichte bleibt lesenswert als besonders interessantes Beispiel für ein Genre, das wir zwar weder vorgesehen noch erwünscht hatten – die erfundene Reportage. Zudem ist sie ein Zeitdokument. Der Text trug entscheidend zur Entlarvung von Relotius’ Machenschaften bei. Oder, wie der «Tages-Anzeiger» schrieb: «Relotius lieferte sich in diesem Buch selbst ans Messer.»
Bereits ist die Empörungswelle wieder abgeflacht. Doch der Schaden bleibt. Umso wichtiger ist dieser Sammelband, der zeigt, wie viele Gedanken sich verantwortungsbewusste Reporter und Reporterinnen bei ihrer Arbeit machen. Wie sie um die Wahrheit und die Präzision der Fakten ringen, Recherche-Power entwickeln. Und wie schliesslich Geschichten entstehen, die nicht nur stimmen. Sie sind auch grossartig.
Margrit Sprecher und Daniel Puntas Bernet
Zusammengeführt hat die beiden Herausgeber von «Wellen schlagen» ihre Liebe zur Reportage. Margrit Sprecher schreibt seit Jahrzehnten Storys für in- und ausländische Magazine. Daniel Puntas Bernet gab vor sechs Jahren seinen Job als NZZ-Wirtschaftsredaktor auf, um das Magazin «Reportagen» zu gründen, das sich ganz dem grossen, langen Erlebnisbericht widmet. 2018 gründete er den «True Story Award», eine Art Pulitzerpreis für Reportagen in zwölf Sprachen aus der ganzen Welt. Ende August 2019 wird er erstmals in Bern vergeben.