Weshalb, Herr Seibt, braucht es eine Mittelklasse?

Offener Brief an das Baby meines Namens über die Zukunft der Mittelklasse

Mein Kleines

Noch hast du mehr Macht als später je in deinem Leben. Wie alle Babys hast du etwas Imperiales. Die Gnade, mit der du den Plüschbär oder den Löffel Brei entgegennimmst. Den Zorn, mit dem du sie von dir weist. Dann deine privaten Leibdiener, die dich speisen, kleiden, putzen und dich unauffällig manipulieren wie einen König.

Und schliesslich der Zuspruch aus der Bevölkerung! Auf deinen Spazierfahrten am Fluss oder in der Migros neigen sich fremde Herren und Damen vor dir und warten gierig auf dein Lächeln. Niemand, der nicht Bewunderung äussert. Noch wirst du verehrt und geliebt, einfach, weil du da bist. Das Willkommen gilt deiner puren Existenz.

In deiner gehobenen Position hast du über Monate nur ein einziges Wort gesprochen: «Nein.» Keine bescheidene Wahl – das Machtwort an sich.

Aber, Kleines, wird deine Herrschaft anhalten? Ich fürchte: nein. Zunächst, weil du gerade den Fehler aller Kinder begehst. Du fängst an, mehr als ein Wort zu sprechen. Wohl nicht zuletzt, damit deine Wünsche etwas schneller ausgeführt werden. Doch das ist ein Irrtum. Denn wer spricht, bekommt auch etwas zu hören: erst von den Eltern, dann in der Schule, dann im Büro. Immanuel Kant wusste das, als er schrieb: «Paviane könnten sprechen, wenn sie nur wollten; sie tun es aber nicht, weil sie ansons­ten zur Arbeit herangezogen werden.»

Kühn ist dein «Nein» aber auch, weil es nicht deinem Stand entspricht. Denn, wenn nicht alles täuscht, wirst du in eine Welt hineinwachsen, in der Leute wie du nicht mehr oft «Nein» zu sagen haben. Denn die breite westliche Mittelklasse, in der deine Eltern aufwuchsen, ist nichts Naturgegebenes. Geschichtlich ist sie eine absolute Ausnahme. Jahrtausendelang waren Vermögen und Macht in einer kleinen Oberschicht konzentriert.

Und nun scheint die Welt wieder zurückzupendeln. Die Welt gehört wieder dem grossen Geld. Überall in Europa gleicht das Mus­ter dem von Amerika: In den USA hat die durchschnittliche Familie seit 1980 fast nichts dazugewonnen: Mehr als verhundertfacht hat sich in dieser Zeit nur die Zahl der Superreichen, deren Einkommen und Vermögen sich vervierfacht haben.

Mit ihnen ist die fürstliche Pracht zurück: tankerartige Jachten, palastgrosse Villen – ganz oben herrscht ein gnadenloser Wettbewerb um Glanz. Und da Geld Macht bedeutet, ist auch die fürstliche Behandlung wieder da: Seit Jahren sinken im weltweiten Wettbewerb die Steuern für Ultrareiche und Grosskonzerne. Superreiche werden umschmeichelt wie Kinder: für ihre pure Existenz. Nicht zuletzt in der Schweiz mit ganzen Industriezweigen von Steuervermeidung bis Banking und Villenteppichen von Zürich bis Genf.

In den Pionierkantonen des Steuerwettbewerbs Zug, Schwyz, Luzern brechen mangels Einnahmen nun die Kantonsbudgets zusammen. Die Steuern werden trotzdem nicht erhöht. Gespart wird bei Strassen, Gesundheit und Bildung. Und in Zug mussten dieses Jahr preiswertere Sonderwohnzonen für die ursprüngliche Bevölkerung geplant werden – Mittelstandghettos.

In den USA, aber auch in Spanien liegt die Jugendarbeitslosigkeit schon bei fast 50 Prozent. Ein Studium genügt schon lang nicht mehr, selbst um einen Job als Hauswart zu bekommen.

Was mich, Kleines, dabei im Moment interessiert, ist, wie viel ich dir, sobald du reden kannst, überhaupt noch zu sagen habe. Denn es ist nicht unmöglich, dass die Generation deiner Eltern so endet wie einst die russischen Exil-aristokraten nach der Revolution: als Leute, die nur noch Absurdes äussern, weil die Welt ihrer Jugend verschwunden ist.

Nehmen wir an, die breite Mittelklasse versinkt, nehmen wir an, die Einkommenskonzentration setzt sich fort (im Kanton Zürich besitzt das oberste Promille der Leute so viel wie 82 Prozent des Restes), nehmen wir an, die Sache vererbt sich (über 50 Prozent der Vermögen 2030 werden – steuerfrei – vererbt und nicht erarbeitet sein), was kann ich dir über Dinge wie Vertrauen, Frechheit oder Karriere noch sagen?

Jeder ist ein Kind seiner Zeit – und alle Entscheidungen meiner Generation basieren auf der Zuversicht einer breiten, bürgerlichen, etwas trägen Gesellschaft (nicht zuletzt der Entscheid, sie zu ärgern). Viel von der fetten Gelassenheit von früher ist verschwunden: Man hört von der Ernsthaftigkeit, mit der heute Kinder durch die Schulen gejagt werden. Dem Ärger der Altreichen über die Neureichen. Dem Ärger biederer Angestellter über englische oder deutsche Chefs.

Und all das Unbehagen der Leute? Ändert es etwas? Eine Studie des «Economist» zeigt, warum die breite Bevölkerung sich gegen die Privilegien der Reichen, gegen Infrastruktur-, Sozial- und Lohnkürzungen nicht wehrt. Der Grund ist nicht, dass man hofft, einmal reich zu werden. Um dann auch kaum noch Steuern zu bezahlen. Sondern weil man fürchtet, an den Schwanz zu rutschen. Und dass durch mehr Staatseinnahmen die Sozialfälle und Arbeitslosen besser gestellt würden. Und diese womöglich auf die eigene Stufe steigen könnten. Das heisst: Je unfreundlicher die Lage wird, desto mehr Grausamkeiten werden begangen. Der Klassenkampf findet auf allen Stufen gegen unten statt.

Das deutet nicht gerade auf eine Zukunft hin, in der Bummeln, Grosszügigkeit oder Spott die richtige Entscheidung ist. Eher sieht es danach aus, als wäre eine strebsame Dienstbarkeit die Strategie in einem Feudalstaat Schweiz: als Wellness-, Anwalts- und Business­insel für kapitalkräftige Kunden, reich wie Könige.

Also, Kleines, was soll ich dir einmal raten? In irgendwelche Dienste zu treten? Es nicht zu tun? Chinesisch zu lernen? Reich zu heiraten? Nun, ich weiss es nicht. Zu vererben habe ich dir nur die Familiennase. Nur vernachlässigbar Geld. Und vielleicht keine Haltungen mehr, die für dich brauchbar sind.

Sicher sind dir nur die Liebe aller, der Plüschbär und der Schlaf. Und dass keiner weiss, was die Zukunft bringt. Sicher wird alles anders, als es aussieht.