Weshalb, Herr Holenstein, braucht es Geschichte?

Wer beruflich mit Geschichte befasst ist und sich täglich in Lehre und Forschung an der Universität mit Fragen der Vergangenheit beschäftigt, muss sich durch diese Frage der Marginalie-Redaktion geradezu provoziert fühlen – sie fordert im positiven Sinne heraus. Die Frage unterstellt, wir Menschen kämen auch ohne Geschichte gut aus. Ist dem aber so? Lässt sich sinnvoll über Geschichte nachdenken, indem wir uns fragen, ob wir sie brauchen oder nicht? Ich denke nicht. Geschichte ist kein Konsumartikel, den wir ohne Schaden auch im Regal stehen lassen können. Oder bildlich ausgedrückt: Geschichte ist eher das Wasser, das der Mensch zum Leben braucht, als das Gläschen Champagner, mit dem er eher eingebildete als echte Bedürfnisse stillt.

20.12.2012

Die sinnvolle Beantwortung der Frage bedarf einer Klarstellung: Die Geschichte ist nicht ein Gegenstand. Sie ist nicht die Gesamtheit der bisherigen Geschehnisse, nicht die Totalität aller der Menschheit bisher widerfahrenen Begebenheiten. Sie ist nichts Vorgegebenes, das als klar definiertes Objekt der Betrachtung auf dem Seziertisch des Historikers liegt. Geschichte hat vielmehr mit Erinnerung, mit dem Gedächtnis zu tun. Kein Mensch aber kann die

Erinnerung beiseite legen, ohne Schaden an seiner Person zu nehmen. Das Schicksal von Demenz-kranken, die ihr Gedächtnis verlieren, führt drastisch vor Augen, wie der Verlust der Erinnerung die Persönlichkeit verändert bzw. beschädigt. Erinnerung und Erinnerungsfähigkeit gehören wesenhaft zum Menschen. Ohne das Wissen um unsere Erlebnisse und Erfahrungen, ohne Erinnerung an die Begegnungen und Kontakte, aus denen unser soziales Netz gesponnen ist, ohne Gedächtnis, das uns an unsere Abmachungen und Verpflichtungen erinnert, würden wir ziel- und orientierungslos durch die Welt torkeln und asozial, d.h. gesellschaftsunfähig, werden.

Was für jeden Einzelnen gilt, trifft auch für soziale Kollektive (Familien und Verwandtschaftskreise, Gruppen aller Art, Nationen) zu. Auch sie bilden ihr Gedächtnis aus. In ihrer kollektiven Erinnerung hält die Gruppe für sich und für die andern fest, woher sie kommt, was sie zusammenhält und ihre Identität ausmacht, was sie von andern Gruppen unterscheidet. Sie erklärt sich und andern, warum und wie sie das geworden ist, was sie ist. Kollektives Gedächtnis fassen wir in vielfältigster Gestalt schon in frühesten Spuren kultureller Überlieferung: in Mythen und Ursprungsgeschichten, in Sagen, Liedern und Bildern, die von Generation zu Generation weitergereicht wurden. Mythische Ursprungs- und Gründungsgeschichten wurden häufig besonders früh aufgeschrieben oder in Bildern dargestellt. In der Schweiz zeigt sich die tiefe Verwurzelung solcher Ursprungsgeschichten in der Erzählung der Männer, die am 1. August 1291 auf dem Rütli die Eidgenossenschaft gegründet haben sollen – eine populäre Vorstellung, der auch Jahrzehnte historischer Forschung nicht beizukommen vermochten. Seit der griechischen Antike ist auch die Geschichtsschreibung ein Medium für die Pflege und Überlieferung des kollektiven Gedächtnisses, sie behielt diese Funktion bei, auch nachdem sie im 18. und 19. Jahrhundert als Wissenschaft akademisch-universitären Status erlangt hatte. Seitdem sind akademisch geschulte Historiker Experten für die Erinnerung, Spezialisten für die methodisch verfahrende Vergegenwärtigung des Geschehenen. Sie bedienen mit ihrer Forschung vielfältigste Bedürfnisse nach Erinnerung und leisten einen Beitrag zur kulturellen Orientierung in ihrer Zeit.

Prof. Dr. André Holenstein (Jg. 1959)

ist seit 2002 Professor für ältere Schweizer Geschichte am Historischen Institut der Universität Bern. Ein Verzeichnis seiner Forschungsschwerpunkte und Publikationen findet sich auf der Website des Historischen Instituts der Universität Bern unter: www.hist.unibe.ch/content/personal/holenstein_andr. In der zwischen 1999 und 2011 im Verlag Stämpfli erschienenen fünfbändigen Reihe «Berner Zeiten» zur bernischen Geschichte war er verantwortlicher Herausgeber für Band 3 («Berns mächtige Zeit. Das 16. und 17. Jahrhundert neu entdeckt»; 2006) und Band 4 («Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt»; 2008).