Vom Schicksal geprüft

Ein Unfall, eine akute schwere Erkrankung, und plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Von einem Moment auf den anderen hört die Welt auf, sich zu drehen, wird das bisherige Leben auf den Kopf gestellt. Wie kann man da weitermachen? Wie geht es weiter?

Ein solcher Schicksalsschlag traf vor gut drei Jahren Olivier Wenger. Nach einem unerkannten Herzinfarkt löste sich das Gerinnsel und verursachte einen ischämischen Hirnschlag. Olivier war mit Fränzi, seiner Frau, auf dem Sonntagsspaziergang, als ihr auffiel, dass etwas nicht stimmte. Sie reagierte richtig, die Erstversorgung funktionierte gut, und dennoch waren die Folgen nicht abzuschätzen. Jeder Hirnschlag hat andere Auswirkungen, niemand kann zu Beginn sagen, wie weit sich der Patient erholen wird.

Nach einigen Tagen auf der Intensivstation wurde Olivier in die Überwachung verlegt. Gut eine Woche später begann er dann mit der Reha im Anna Seiler Haus. Die links­seitige Lähmung (Gesicht, Arm und Bein) konnte soweit möglich zum Verschwinden gebracht werden, mehr Kraft und Ausdauer brauchte er im Umgang mit dem linkssei­tigen Neglect (Vernachlässigung einer Raum-,­ Körper- und Objekthälfte), dem Erlernen der Sprache (Broca-Aphasie), dem Wiedererlangen des ganzen Körpergefühls, dem Abrufen seines Wissens und noch vielem mehr, er musste praktisch bei null beginnen. In der Reha absolvierte er ein ausführliches Programm: Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie, Neuropsycho­logie. Da gab es Phasen der Angst, der Überforderung, der Selbstzweifel. So viel ging nicht mehr, niemand konnte voraussagen, wie es weitergehen würde. Es war unklar, wie ein zukünftiger Alltag aussehen könnte.

Ganz wichtig waren für ihn in dieser Zeit der Support durch seine Frau und seine Eltern sowie die vielen Genesungskarten und später die (geplanten kurzen) Besuche von Angehörigen, Freunden und Arbeitskollegen. Auch das ganze Team der Pfleger und Thera­peutinnen hat gut zusammengespielt. In solchen Momenten ist man besonders froh, wenn ein tragfähiges soziales Netz vorhanden ist.

Einen Monat nach dem Ereignis musste Olivier am Herzen operiert werden, via Leisten­vene wurde ein Stent platziert und das Loch (Foramen ovale) zwischen dem rechten und dem linken Vorhof des Herzens mit einem Schirmverschluss geschlossen. Danach ging es ihm schnell besser. Für ihn waren in seinem Zustand zwei Probleme gleichzeitig eine klare Überforderung gewesen. Als das eine gelöst war, konnte er das andere mit viel mehr Energie anpacken. Er machte markante Fortschritte, es ging aufwärts. Nach einem weiteren Monat in der Reha konnte er nach Hause gehen.

Zwei Jahre lang erhielt er noch wöchentlich Therapie im Anna Seiler Haus, und in dieser Zeit wurde auch zusammen mit der IV, einem persönlichen Coach (Avantos) und seinem alten Arbeitgeber das Wieder­erlangen seiner Arbeitsfähigkeit trainiert.

Und heute? Olivier hat sich mit grossem Einsatz einen neuen Alltag zurückerobert. Er arbeitet 30% an seinem alten Arbeitsort und ist zu 64% invalid eingestuft. Seine zwölf Arbeitsstunden wöchentlich verteilt er auf drei Tage. Vieles geht langsamer als zuvor, zuweilen hat er Mühe, die richtigen Worte zu finden. Nach einer gewissen Zeit ist sein Akku leer, dann geht gar nichts mehr. Er muss planen können, gerät schnell unter Stress, wenn etwas Unvorhergesehenes auftaucht.

Zu schaffen machen ihm vor allem die Beein­trächtigungen, die man nicht sieht. 
Seine Umgebung sieht, dass er früh Feierabend macht. Sie sieht aber nicht, dass diese vier Stunden ihn schon seine ganze Kraft gekostet haben. Sie sieht nicht, dass er nicht spontan am Abend noch dieses oder jenes unternehmen kann. Sie sieht auch nicht, dass er zu einem grossen Teil seine Unabhängigkeit verloren hat. Für fast alles braucht er Unterstützung oder zumindest Beratung.

Was macht das mit einer Partnerschaft? Durch das Ereignis müssen die Partner auf einen Schlag zusätzliche, über weite Strecken dominierende neue Rollen über­nehmen: diejenigen des hilfsbedürftigen Patienten und der Betreuerin und Organi­satorin. Dieser Rollenwechsel wurde Olivier und Fränzi durch die Situation aufgezwungen, und auch wenn die Abhängigkeit und die Intensität der Betreuung geringer geworden sind, dominieren sie nach wie vor das Zusammenleben. Die beiden haben die neue Situation akzeptiert. Ihre Beziehung ist daran nicht zerbrochen, aber sie hat sich verändert und ist nicht einfacher geworden.


Gut zu wissen

F.A.S.T.: Allein in der Schweiz erleiden jährlich rund 16 000 Personen einen Schlaganfall. Entscheidend für den Heilungsverlauf sind die schnelle Diagnose und die richtige Behandlung. Bei einem Verdacht auf Hirnverletzungen gilt:

F = Face: Ist die Mimik einseitig verzogen?

A = Arm: Können die Arme nicht symmetrisch gehoben und bewegt werden?

S = Speech: Ist die Sprache verwaschen?

T =     Time: Zeit ist kostbar, unverzüglich die Ambulanz rufen und die Einlieferung in eine Stroke Unit oder ein Stroke Center veranlassen! Broca-Aphasie: teilweiser oder völliger Verlust der bereits erlernten Sprache aufgrund einer Hirnschädigung. Weil Aphasiker in der Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt sind, können sie psychisch oder geistig behindert wirken. Aber: Aphasien deuten nicht auf eine psychische oder geistige Behinderung hin, sondern sind reine Sprachstörungen! Notruf: Über die Notruf-Funktion des Smartphones kann nur 112 oder 911 (internationale Notrufe) gewählt werden. Dies führt nicht direkt zur Ambulanz (144). Das heisst, eine Alarmierung ist so möglich, es kann aber wertvolle Zeit verloren gehen. Fragile Suisse: Bei Hirnverletzungen bietet Fragile Suisse Betroffenen und ihren Angehörigen Unter­stützung in allen Bereichen

    ▪    in zehn regionalen Vertretungen

    ▪    via Online-Chat

    ▪    via Helpline

    ▪    www.fragile.ch