Vom Punkt zur Linie

Für jede Korrektorin, die etwas auf sich hält, ist die Interpunktion von zentraler Bedeutung. Haben Sie beispielsweise schon probiert, einen Text ohne Punkte zu lesen? Versuchen Sie es einmal, und Sie werden sich schon ab der zweiten Zeile in einem ziemlichen Durcheinander wiederfinden. In den meis­ten Sprachen kommt dem Punkt eine zentrale Bedeutung zu, trotz seiner geringen Grösse. Im Arabischen hat er eine besondere Position inne. Er dient nicht nur dazu, einen Text zu verstehen, sondern in erster Linie, die Wörter zu lesen. Denn der Punkt ist integrierender Bestandteil des Alphabets, und mit seiner Hilfe lassen sich formgleiche Buchstaben unterscheiden. Die einfache Tatsache, einen oder mehrere Punkte über oder unter einen Buchstaben zu setzen, ändert alles. Die beiden Wörter بيت (Haus) und بنت (Mädchen) haben etwa so viel miteinander zu tun wie «Haus» und «Laus» im Deutschen!

Jetzt glauben Sie vielleicht, dass mich meine berufliche Aufmerksamkeit für den Punkt geradewegs zur arabischen Kalligrafie brachte. Und dass diese Kunst auch eine Möglichkeit ist, mich von der Diktatur der Interpunktionsregeln zu befreien und endlich harmonische Linien zu ziehen, die nicht mit dem Rotstift gemalt werden … Tatsächlich hat mich aber diese Kunst schon in der Primarschule fasziniert. Nicht, weil die Lehrerin beim Diktat klangvoll «point, à la ligne» sagte, sondern weil ich schon in jungem Alter beschlossen hatte, Arabisch zu lernen und die Pyramiden von Ägypten zu besuchen.

Al-Hallâj

Viele Jahre später, viel Tinte war durch meine Hefte geflossen, hatte ich diesen Traum noch nicht verwirklicht. Als Freunde mir vorschlugen, in Freiburg einen Kurs für arabische Kalligrafie zu organisieren, sagte ich mir, dies sei nun der geeignete Anstoss, um meine Wünsche zu verwirklichen. Durch die Begegnung mit dem irakischen Kalligrafen Ghani Alani, dem bislang letzten Meister der im zehnten Jahrhundert gegründeten Kalligrafieschule von Bagdad, lernte ich den Stilreichtum dieser uralten Kunst kennen.

«Am Anfang der Schönheit ist die Liebe», derselbe Satz in zwei Schriften und unterschiedlicher Gestaltung

Schilfrohr, nicht der Pinsel, dient in der arabischen Kalligrafie als Arbeitsinstrument.

Ich begann mit Kufi, der ersten Kalligrafie der arabischen Schrift und dem Ursprung des Korans gewidmet, und tauchte zu den Quellen der Schrift: Bei dieser kantigen Schrift fällt die Ähnlichkeit zum Sumerischen auf. Danach kam Thuluth mit ihren Rundungen und perfekten Proportionen, eine Schrift, die in Bagdad ab dem 9. Jahrhundert entwickelt wurde. Und im Maghrebi schliesslich begegnete ich den mozarabischen Wandverkleidungen der Alhambra-Paläste …

Und welches Element verbindet nun all diese Arabesken, werden Sie mich fragen? Der Punkt, natürlich! In der Kalligrafie ist der Punkt die Masseinheit. Mit ihm entsteht die Linie, und der Text erhält Leben. Und es braucht nicht mehr als einen Punkt, um die Ver­­­­­­bindung zwischen der Kunsthis­torikerin und der Lektorin zu ziehen – ­der Kreis ist geschlossen. Und ich gehe jetzt und schliesse meinen Koffer: der Schlusspunkt meiner Vorbereitungen für eine Reise ins Land der Pharaonen!