Ungewöhnlich langes Heimleben

Ein uneheliches Kind wächst im Heim auf. Aus dem verstossenen Heimbuben wird später ein anerkannter Heimleiter und Verbandspräsident. Die eigene Vergangenheit verschweigt er – aus Scham. Nun erzählt Sergio Devecchi in einer Autobiografie seine ergreifende Geschichte.

«Nur zehn Tage lang lebte ich im Oktober 1947 als Neugeborener bei der Mutter in Lugano. Ich war ein Kind der Schande, lag in einem geliehenen Bettchen. Eine Frau mit Kind und ohne Ehemann? So etwas gehörte sich nicht. Die knapp 20-jährige Mutter sollte sich gar nicht erst an das kleine Wesen gewöhnen. Die Grossmutter, bei der sie noch wohnte, wollte es so. Für Uneheliche gebe es christliche Häuser. Die Grossmutter stammte aus Zürich, sie war reformiert. Schon bald hatte der Pfarrer der reformierten Diasporagemeinde von Lugano ein evangelisches Heim im Tessin gefunden. Das ‹Dio aiuta› in Pura ob Lugano, wo nur Deutsch gesprochen wurde. Dio aiuta – Gott hilft. Die Grossmutter packte ein paar Strampler zusammen. Die Heimeltern aus Pura holten das Baby ab. Die Mutter war nicht da, als das Auto mit dem Kind davonfuhr. Die Grossmutter lief rasch ins Haus. Eine Sorge weniger. Und der unerwünschte Bub, dem man den Namen Sergio gegeben hatte, war nun aus ihrer aller Augen. Er war versorgt.»So beschreibt der heute bald 70-jährige Sergio Devecchi den Tag, an dem er, kaum zur Welt gekommen, fremdplatziert wurde. Bis er 17 war, blieb er in Tessiner und Bündner Heimen – von der verarmten Familie verstossen, von den Behörden vergessen. Seine Kindheit und Jugend bestand aus strenger Arbeit, täglichem Gebet und ständiger Angst vor Strafen. Glückliche Momente waren selten. Nach den vielen Jahren in der abgeschotteten Parallelgesellschaft der frommen Heime fiel es ihm als jungem Mann schwer, im Leben Fuss zu fassen. Mittellos und einsam fristete er sein Dasein, bevor er sich – am Tiefpunkt angelangt – aufrappelte. Er ergriff selbst den Erzieherberuf und begann sein zweites Heimleben. Aus dem früheren Heimbuben wurde ein fortschrittlicher Jugendheimleiter in der Stadt Zürich, ein engagierter Verbandspräsident mit Ausstrahlung auf die ganze Branche. 

Besonnene Stimme

Aus Scham verschwieg er jedoch seine Herkunft, vergrub die belastenden Erfahrungen jahrzehntelang tief in seinem Inneren. Erst als er Ende 2009 in Rente ging, legte er an einer Fachtagung seine Vergangenheit offen. Ein schmerzhafter Prozess der Aufarbeitung und Spurensuche begann, der bis heute andauert. 

Der Autor beschreibt seinen ungewöhnlichen Lebenslauf differenziert, ohne Pathos und Anklagen, mit einer Erzählkraft, die die Leserin, den Leser tief zu berühren vermag. Es ist ein sehr persönliches Buch, das gleichzeitig über das Einzelschicksal hinausweist. Devecchis Biografie dokumentiert aus erster Hand die Entwicklung der Heimerziehung in der Schweiz, die er selbst reformieren half. Vom Heimbub zum Heimleiter – er kennt beide Seiten. Das macht ihn zur besonnenen Stimme in der aktuellen Diskussion um staatliche Eingriffe in Familien und die neuen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB), deren Professionalität er begrüsst.

Für den Autor war es nicht einfach, das Buch zu verfassen: «Nachdem ich meine Heimvergangenheit lange verdrängt hatte, kam beim Schreiben vieles hoch.» Devecchi brauchte Jahre, um das Buch fertigzustellen, und in dieser Zeit geschah noch viel. Die eigene Geschichte nun zu publizieren, ist für ihn ein Akt der Befreiung. Und sein Beitrag zur Aufarbeitung der Schicksale ehemaliger Heim- und Verdingkinder in der Schweiz. 


Die Biografie

Sergio Devecchi

Heimweh – vom Heimbub zum Heimleiter

192 Seiten, mit Bildteil

ISBN 978-3-7272-7905-8 CHF 39.–

Sergio Devecchi ist verwitwet und Vater von zwei Söhnen. Er lebt in Oberdorf (SO) und Zürich und ist heute noch ein gefragter Berater und Experte im In- und Ausland. Beim Schreiben seiner Autobiografie hat ihn die Berner Journalistin Susanne Wenger unterstützt.