• Editorial

Üb immer Treu und Redlichkeit

«Es muss jeder sich selbst treu bleiben, sonst kann er seinem Nächsten nicht dienen.»1

Bleib dir selbst treu! Ein Zuruf, den man oft hört oder selbst macht. In Shakespeares «Hamlet» schliesst Polonius seinen Rat an den abreisenden Sohn Laertes mit eben diesen Worten: «Dies über alles: Sei dir selber treu …»2 Zuweilen aber, wenn mir jemand sagt, er bleibe eben sich selbst treu, wirkt es für mich wie eine Ausrede. Eine Ausflucht, um sich nicht vertieft mit sich und den eigenen Ansprüchen an sich selbst beschäftigen zu müssen. Ich bin halt, wie ich bin.

Im Wort «Treue» stecken Inhalte wie Vertrauen, Sicherheit, Wahrheit. Das englische Wort «true» ist mit dem deutschen «Treue» verwandt. Es ist also nicht abwegig, «to thine own self be true» statt mit «Sei dir selber treu» mit «Bleib redlich mit dir selbst» zu übersetzen. Prüfe stets, wer du bist und was du bist. Und versuche, mit dieser Prüfung zu erkennen, wo du dich verbessern kannst, woran du wachsen kannst.

Am Tempel des Apollon in Delphi sind die Worte eingemeisselt: «Erkenne dich selbst!»3 Es braucht diese eigene Standortbestimmung immer wieder. Ja, man darf und soll sich selbst bejahen, sich akzeptieren, wie man ist. Das heisst aber nicht, dass die eigene Entwicklung stehen bleiben soll. So, wie sich der Körper im Laufe der Zeit entwickelt, wie wir physiologisch älter werden, so soll sich auch das Ich entwickeln. Ich lerne aus meinen Erfahrungen. Aus allem, was ich mache und erlebe, kann ich Schlüsse für mein weiteres Verhalten, für meine Einstellungen und meine Werte ziehen. Daraus wird nicht ein neues Ich, aber es gestaltet sich hoffentlich ein reiferes Ich.

Selbsterkenntnis sei der Weg zur Besserung, spottet etwa der Volksmund. Das hat seine Berechtigung. Ich bin auch nur ein Mensch! Ja, das ist banal, aber es sagt höchstens das aus, was mit den griechischen Worten am Tempel wohl mitgemeint war: Wir sind keine Götter. Ich bin auch nur ein Mensch: Was macht denn den Menschen aus? Ich bin als Mensch ein Individuum. Aber ohne den Mitmenschen sind wir nichts. Ich bin Teil einer grösseren Gemeinschaft, mit der ich lebe, die mit mir lebt. Manchmal ist es ebenso schwierig, mit sich selbst zu leben, wie in der Gemeinschaft zu leben. Auch deshalb kann ich, soll ich an mir arbeiten, damit ich mit mir im Reinen sein kann, damit ich in der Gemeinschaft aufgehoben bin. Das ist ein lebenslanger Anspruch an mich selbst. Ich fasse ihn in der hermetischen Weisheit zusammen: «Bleibe nicht, wer du warst, sondern werde, wer du bist.» In der Welt ist nur ein «Ich bin, der ich bin».

Rudolf Stämpfli
Verwaltungsratspräsident
Stämpfli Verlag
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