Traumberuf Lektorin

Anfang der 1990er-Jahre hörte ich zum ersten Mal vom Beruf des Lektors. Das tönte ja fast wie im Traum: Jemand, der den ganzen Tag einfach liest? Und dabei noch Geld verdient? Ganz so würde es in der Realität sicher nicht sein, aber zuerst einmal ging es nicht ums Geldverdienen, sondern «nur» ums Lesen. Denn Lektorin konnte man – zumindest in der Schweiz – nicht lernen, sondern nur werden, und ein Germanistikstudium war ein guter erster Schritt dorthin.

Autoren schreiben keine druckfertigen Bücher

Bereits während meines Studiums konnte ich den nächsten Schritt tun. Beim eFeF-Verlag suchte man Studentinnen, die Manuskripte beurteilen oder Druckfahnen korrigieren wollten. Dort bekam ich einen breiten Einblick in die reale Welt des Verlagswesens. Ich lernte, wie schwierig es ist, Bücher zu finanzieren, sie in den Buchhandlungen zu platzieren und so zum Leser zu bringen. Mir wurde klar, dass Menschen, die Manuskripte einsenden, noch lange keine Autoren sind. Und nicht zuletzt kaufte ich meinen ersten Rechtschreibduden, studierte die Korrekturzeichen, von denen ich noch nie zuvor etwas gehört hatte, und setzte selbst den Rotstift an.

Oft sind die Autoren sehr froh, dass sie mit dem Lektor oder der Lektorin einen neutralen Leser haben, der weder in der inhaltlichen Materie drinsteckt noch als Freund oder Bekannter befangen ist. Schliesslich wollen sie ganz einfach ein gutes Buch machen. Trotzdem haben sie dann Mühe, ihr Manuskript loszulassen. Es steckt so viel Persönliches, so viel Herzblut darin. Da braucht es viel Fingerspitzengefühl. Alle Eingriffe in ein Manuskript, auch wenn sie immer sachlich begründbar sind, können den Autor sehr persönlich treffen.

In einem ersten Gespräch mit einem Autor oder einer Autorin sage ich denn auch immer, dass ich mir dessen sehr bewusst bin. Häufig hilft das bei der anschliessenden Zusammenarbeit. Zudem weise ich darauf hin, dass ein lektorierter Text noch kein korrigierter Text ist und deshalb noch Fehler enthalten kann. Und trotzdem kommt es immer wieder zu Missverständnissen.

Ein Grund ist sicher, dass man mit den wenigsten Autorinnen und Autoren bereits zusammengearbeitet hat. Man hat keine gemeinsamen Erfahrungen, keine gelungenen Projekte, auf die man zurückblicken kann, und das Vertrauen muss immer wieder neu aufgebaut werden.

Eine Berufung mit vielen Berufen?

Der Stellenbeschrieb einer Lektorin kann so unterschiedlich sein wie die Verlage und deren Programme und Strukturen, die es gibt. Manchmal ist die Lektorin die Programmleiterin und bestimmt, welche Bücher in die Verlagsvorschau kommen. Manchmal ist sie die Projektleiterin, koordiniert und erstellt die Terminpläne und ist dafür verantwortlich, dass alle beteiligten Stellen – Lektorat, Satz, Korrektorat, Druck, Buchbinderei – diese auch einhalten. Zum eigentlichen «Lesen» kommt sie dann kaum mehr. Sie kann aber auch einfach die Korrektorin sein, die die Druckfahnen erhält.

Bei Stämpfli bin ich von alledem etwas. Ich sichte Manuskripte, und meine Meinung ist gefragt, wenn entschieden wird, ob wir einen Titel ins Verlagsprogramm aufnehmen. Je nachdem lektoriere ich die Manuskripte stilistisch und inhaltlich, oder ich korrigiere nur den gelayouteten Text. Da ich die einzige Lektorin im Sachbuchverlag bin, stimme ich meine Termine selbst aufeinander ab, und manchmal erstelle ich gleich den ganzen Terminplan. Bei Bildbänden beschränkt sich meine Arbeit häufig aufs Korrigieren, bei Sachbüchern kann die Zusammenarbeit mit dem Autor so intensiv sein, dass ich für ihn zur wichtigsten Ansprechperson werde und die Projektleitung übernehme. Und nicht zuletzt erstelle ich Pressemitteilungen, schreibe Texte für die Verlagsvorschau und für den Buchumschlag.

Mit jedem neuen Projekt – so kommt es mir manchmal vor – werden die einzelnen Arbeitsschritte neu zusammengesetzt oder kommt etwas völlig anderes hinzu. Das ist es, was meinen Beruf so spannend macht … und manchmal auch ein wenig anstrengend.