SHOTEI IBATA – Rock Music and Big Brush

1985 habe ich den japanischen Kalligrafiekünstler Shotei Ibata kennengelernt. Im Rahmen eines Studienaufenthaltes weilte ich frisch in Kioto. Mein Nachbar, ein Konzeptkünstler, bereitete ein neues Projekt vor, bei dem er Shotei Ibata konsultieren wollte. Ich begleitete ihn, und so wurde an diesem Tag der Grundstein für meine tiefgründige persönliche Beziehung zu Shotei Ibata gelegt, sowohl auf der Basis des Lehrers zum Schüler, denn ich nahm von da an bei ihm Kalligrafieunterricht, als auch in menschlich kultureller Hinsicht, denn Shotei Ibata liess mich, wie ein neues Familienmitglied, unvoreingenommen an seinem Leben teilhaben.

Leitaussage und Buchtitel

1985, also im gleichen Jahr, wurde Shotei Ibata nach London zu einer Performance eingeladen. Er trat auf der Bühne des Camden Palace zusammen mit der japanischen Heavy Metal Band 44Magnum auf. Schon einige Jahre zuvor engagierte sich Ibata im Projekt «Sound and Calligraphy» in Tokio mit dem Komponisten Takeo Maeda. Es war aber der Puls der Rockmusik, der für Ibata einen Kontrapunkt zu seiner kalligrafischen Performance mit dem grossen Pinsel, den er seit 1972 benutzte, setzte. Hier prägte er den Satz: «Shodô (Schriftkunst) ist wie Rockmusik auf ihre Art. Es ist eine Kunst, die man mit dem Herzen und dem Körper spüren muss.» Dieser Satz wurde zur Leitaussage des vorliegenden Buches und gab diesem auch den Titel.

Der Pinselstrich haucht den Bildern von Shotei Ibata Leben ein. Bei der Betrachtung kann man sich von der Dynamik der Linie leiten lassen. Der Körpereinsatz des Künstlers ist sichtbar, und somit wird in einem Werk auch viel Persönliches preisgegeben. Das hat nicht nur mich an solchen Werken immer fasziniert, sondern schon die Begründer der abstrakten Kunstrichtungen in Amerika und Europa beeindruckt. Die aufwendige und lebenslängliche Vorbereitung dafür verdichtet der Künstler auf eine einfache Formel; sie lässt sich erst herauslesen, wenn man einmal selbst zum Pinsel greift.

Was einfach aussieht, muss nicht einfach sein.

Das Konzept der japanischen und auch der chinesischen kalligrafischen Kunst war, das persönliche Charakterbild des Künstlers aus seinem Werk zu lesen. Auch wenn sich in der zeitgenössischen kalligrafischen Kunst die Betrachtungsweise in diesem Punkt verändert hat, so vermittelt der Pinselstrich sicher dessen Talent und Qualität. Während meines Studiums bei Shotei Ibata nahmen wir Schüler einige Male an Workshops teil, die in einem Tempel in Kioto stattfanden. Da kam ich nicht nur mit anderen Schülern zusammen, sondern konnte mich auch mit anderen Mitgliedern aus der von Ibata gegründeten Künstlergruppe Byakunensho austauschen. Dort wurde mir die Stärke dieser Kunstform bewusst, und ich empfand grosse Anerkennung.

Über die Kunst Shotei Ibatas konnte ich lernen, dass die völlige Abkehr von dem, was man durch die Tradition gelernt hat, in vielen Bereichen keine Option sein kann. Ich merkte, dass es für ihn zu wertvoll ist. Andererseits eröffnete ihm der Einblick in westliche Kunstrichtungen und Arbeitsweisen eine wichtige Erkenntnis. Er unterstützte seinen Durchbruch in die zeitgenössische Szene. Für mich als westliche Person war die Wahrnehmung der japanischen Kalligrafie als eine im internationalen Kunstgeschehen eingebettete Kunstform eine ausserordentlich positive Erfahrung. Ich konnte Kalligrafie aus demselben Blickwinkel wie westliche Kunst betrachten und verstehen. Dieser Schritt, namentlich mit unseren ästhetischen Kriterien an ein fremdes kalligrafisches Werk heranzugehen, fällt vielen schwer. Der Grund mag in Berührungsängsten liegen, aber auch in der Unwissenheit. Ich hoffe, mit diesem Buch nicht nur den Künstler Shotei Ibata zu ehren, sondern auch den Blick für diese zeitgenössische Kunstform zu schärfen.