Rechtschreibereform 1930

Wer im Google unter dem Stichwort «Einführung der Kleinschreibung» auf die Suche geht, ist unter anderem «willkommen bei Stämpfli Gruppe». Der Surfer wird zu einem kurzen Eintrag in der Stämpfli-Geschichte geleitet, der darauf hinweist, dass in unserem Haus zwischen 1930 und dem Anfang der 1950er-Jahre die ganze Korrespondenz in gemässigter Kleinschreibung geführt wurde.

Die Rechtschreibung war nie so geordnet, dass sämtliche Leser und Schreiber des Deutschen damit zufrieden waren. Nach den Reformen, die im Zusammenhang mit Konrad Dudens Wörterbuch aus dem Jahre 1880 Anfang des 20. Jh. eingeführt wurden, schloss sich 1924 in Olten eine Gruppe Unzufriedener zum Bund für vereinfachte Rechtschreibung zusammen, und SP-Nationalrat Hans Roth aus Interlaken unternahm einen Vorstoss, der den Bundesrat verpflichtete, mit den andern deutschsprachigen Ländern die weitere Vereinfachung der Rechtschreibung zu besprechen. 1931 machte der Bildungsverband der deutschen Buchdrucker im sogenannten Erfurter Programm weitgehende Vorschläge:

1. Kleinschreibung mit Ausnahme der Satzanfänge und Namen. 2. Beseitigung von Doppelschreibungen. 3. Vermehrte Getrenntschreibung; keine Unterscheidung von sinnlicher und übertragener Bedeutung. 4. Eindeutschung von Fremdwörtern und Angleichung von chs, ks, cks, x (rytmus, katarr, fucks, heckse). 5. Anpassung der Lehnwörter aus andern Sprachen (schofför, träning, Klaun). 6. Beseitigung der Selbstlautverdoppelungen (aussat, bundesstat). 7. Beschränkung des Dehnungs-h (argwon, stönen, verjären). 8. Vereinfachung der Apostrophregel. 9. Trennung nach Sprechsilben (heute gültige Regelung). 10. Ausgleichung bestehender Rechtschreibung.

1930 entschloss sich die Geschäftsleitung der damaligen Buchdruckerei und Verlagsanstalt Stämpfli & Cie dazu, die gemässigte Kleinschreibung einzuführen. In einem Rundschreiben an die Kunden und Geschäftsfreunde hiess es: «Nach innen, das heisst, in unserm geschäftsbetrieb, übersteigt die wirkung der änderung unsere erwartungen. In der kürzesten zeit hatten sich alle angestellten mit der kleinschreibung vertraut gemacht. Insbesondere vereinfachte sich die bedienung der schreibmaschinen in einem masse, dass niemand, der an der schreibmaschine arbeitet, zur alten schreibweise zurückkehren möchte. Bemerkenswert ist auch, dass zahlreiche angestellte und arbeiter von sich aus für ihren eigenen schriftverkehr zur kleinschreibung übergegangen sind. – Die wirkungen nach aussen liessen sich, wie bereits bemerkt, aus zahlreichen zuschriften und zeitungsartikeln erkennen, die mit freudiger überzeugung unser vorgehen gutheissen. Noch erfreulicher war, dass einige grosse firmen und eine anzahl von privaten unser beispiel befolgten.»

Einer, der sich offenbar vom Schritt bei Stämpfli anregen liess, war der Bieler Stadtpräsident Dr. Guido Müller.

Anfang 1934 führte die Bieler Exekutive in der Verwaltung die Kleinschreibung ein, was sofort zu heftigen Protesten in der Öffentlichkeit führte. Als «das Volk in seinem innersten Empfinden verletzende Massnahme», «Sprung ins Primitive», «Nachäfferei der Franzosen» wurde der Gemeinderatsbeschluss gebrandmarkt, ja als ähnliche Unsitte wie das «Nacktbaden». Mit der Bemerkung, ein einziger Vernünftiger unter lauter Narren komme eben nicht zur Geltung, blies Müller die Übung ein halbes Jahr nach Beginn wieder ab.

Bei Stämpfli allerdings hielt sich die Neuerung bis Ende 1953.