Personenfreizügigkeit vor 100 Jahren

Von Personenfreizügigkeit ist gegenwärtig viel die Rede. Schaut man in die Personalbücher unserer Firma aus den Jahren vor und nach der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert, stellt man fest, dass es damals leicht gewesen sein muss, die Landesgrenzen zu überschreiten und für kurze Zeit an verschiedenen Orten in fremden Ländern zu arbeiten.

Bevor gegen 1920 die Setzmaschinen zum Einsatz kamen, war das Kontingent an Schriftsetzern in den Druckereien immer entweder deutlich zu klein oder zu gross. War ein umfangreiches Werk innert kurzer Frist fertigzustellen, brauchte es plötzlich eine hohe Zahl Leute dieser Berufsgattung, denn die Leistungsfähigkeit eines Setzers beschränkte sich auf rund 1500 Zeichen in der Stunde. Bestand der Auftrag überdies aus tabellarischen Darstellungen, erhöhte sich der Bedarf an Fachkräften zusätzlich. War schliesslich der Auftrag termingerecht erledigt, konnte man auf einen grossen Teil dieser Arbeitskräfte wieder verzichten, und man entliess sie. In etlichen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg machten Ausländer in unserem Betrieb zeitweise fast die Hälfte der gegen 40 Personen aus, die im gleichen Jahr ihres Eintrittes nach einigen Wochen oder Monaten wieder austraten. Sie kamen vorwiegend aus Deutschland, aber auch aus vielen andern europäischen Ländern, selbst Russland wird mehrfach als Herkunftsort bezeichnet. Es handelte sich bei den meisten wohl um sogenannte Tippelbrüder. Sie waren auf der Walz durch ganz Europa und heuerten da und dort für einige Zeit an, bevor sie weiterzogen. Die Formalitäten, die sie zu erledigen hatten, waren bescheiden.

Auf der Walz

In zwei Nummern des Jahrgangs 1975 der «Marginalie» hat der ehemalige langjährige Chefkorrektor von Stämpfli, Paul Knuchel, den Verlauf einer solchen Walz aus eigener Erfahrung anschaulich beschrieben. 1913 trat er seine Reise an. Zusammen mit einem Kollegen hatte er im Sinn, zu Fuss an die Riviera zu gelangen. Bereits in Annecy traten sie für acht Wochen in den Dienst einer Druckerei, bevor sie sich in Richtung Lyon aufmachten. In Lyon meldeten sie sich bei der Bourse du travail, wo man ihnen das übliche Viatikum – einen Beitrag, mit dem sie die ersten Tage über die Runden kamen – auszahlte und ihnen gleich auch Stellen beschaffte. Dort allerdings passte es den beiden nicht. Sie hatten inzwischen etwas Geld verdient und konnten sich den Zug nach Grenoble leisten. Über die Route Napoléon gings weiter nach Gap. Erneut kamen sie in den Genuss des Viatikums und einer zweiwöchigen Anstellung. In Cannes gelangten sie an ihr erstrebtes Ziel, das Meer. Von Marseille aus fuhren sie nach Algier, wo sie allerdings keine Arbeit finden konnten, und auf der Rückreise gelang ihnen dies erst in Montbéliard wieder.

In Montbéliard trennten sich die beiden. Paul Knuchel machte sich nach Paris auf, sein Kollege Gustav Trüb ging nach Berlin. In Paris fand Knuchel Beschäftigung an einem Warenhauskatalog. Nach einem Abstecher nach London war er erneut in Paris tätig, und zwar in einer Imprimerie polyglotte, die eine Deutschgrammatik herausgab. Nach dem Kriegsausbruch 1914 hatte er zum Grenzdienst in der Schweiz einzurücken. Aber bereits 1915, mitten im Krieg, trat er wieder eine Stelle in Potsdam an. Nachdem er in München als Maschinensetzer gearbeitet hatte, wurde er 1918 erneut zum Grenzdienst aufgeboten. Anschliessend übernahm er eine Stelle in Genf. Als er sich schon mit dem Gedanken vertraut machte, nach Bern zurückzukehren, bot ihm sein ehemaliger Chef in London eine Akzidenzsetzerstelle an. Nach einem Jahr beendete Knuchel seine Walz endgültig, trat wiederum bei Stämpfli ein, wo er 40 Jahre sesshaft blieb.

Nach all den Jahren berichtet er von einer einzigen Schwierigkeit, die er 1918 beim Grenzübertritt erlebte, als man ihn für einen Spion hielt und er sich einer totalen Leibesvisitation unterziehen musste.