Mein Leben als Teichhuhn während der Coronakrise

Während Monaten wurde uns aus allen möglichen Blickwinkeln geschildert, wie wir Menschen die Coronazeit erlebten. Doch wie erging es den Wildtieren? Ein Perspektivenwechsel.

«Als Teichhuhn habe ich kein einfaches Leben, gerade im Frühling und Sommer. Jetzt dreht sich alles um die Fortpflanzung. Ich muss einen Partner finden, ein Nest im Schilf oder in der Ufervegetation bauen, die Eier legen und bebrüten, die geschlüpften Küken herumführen, bewachen und füttern. Und das zwei- oder dreimal pro Jahr!

Leider bleibt meine Familie nicht ungestört. Wir sind nicht allein am Seeufer. Mal ist es ein Marder, der nach meinem Gelege schielt. Mal ist es ein Hund, der durchs Schilf stöbert. Und mal sind es diese zweibeinigen Wesen, die auf grossen Brettern angepaddelt kommen und sich am Ufer niederlassen, samt Feuer, Abfall und Lärm.

Häufig muss ich deshalb meine Eier und Küken verteidigen oder sie sogar im Stich lassen. Obwohl ich ständig auf der Hut bin, konnte ich nicht verhindern, dass mehrere Eier erkaltet sind.

Das ist schon in normalen Jahren ein grosser Stress. Aber dieses Jahr ist alles anders. Aus Gründen, die mir verborgen bleiben, wimmelt es plötzlich von Zweibeinern. Sie tauchen an Orten auf, wo ich früher sicher war. Sie bewegen sich zu Fuss und auf zweirädrigen Maschinen.

Im Sommer sind sie auch überall auf dem Wasser unterwegs. Die üblichen Stammgäste kenne ich ja mittlerweile. Aber jetzt gibt es viele neue Zweibeiner, die sich nicht auskennen. Sie wissen nicht, dass wir Teichhühner hier leben und viele andere Tiere auch.

Diese Zweibeiner wissen leider auch nicht, wie sie Rücksicht auf uns nehmen können. Von ihren vierbeinigen Begleitern, den Hunden, will ich gar nicht erst reden.

Aber es gibt Hoffnung! Eine der Zweibeinerinnen ist häufig hier bei uns am See. Sie kennt uns und wir kennen sie. Damit auch die anderen Zweibeiner sie kennen, ist sie immer gleich gekleidet und mit einem grünen Abzeichen markiert. ‹Rangerin› und ‹Pro Natura›, sagt sie zu den anderen Zweibeinern. Was auch immer das heisst.

Dieses Jahr ist sie besonders häufig da. Sie erzählt den anderen Zweibeinern von Vögeln, Fischen, Pflanzen und Fröschen. Und sie erklärt, warum die Wege nicht verlassen, der Abfall nicht weggeworfen, Feuer nicht entzündet und Hunde an die Leine genommen werden sollten.

Schliesslich, so sagt sie, leben wir hier in einem Naturschutzgebiet. Ich weiss ja nicht, was das ist. Aber es scheint eine gute Sache zu sein. Es sorgt dafür, dass wir Teichhühner einen ungestörten Platz zum Leben haben.

Es ist schön bei uns am See. Deshalb wollen die Zweibeiner auch zu uns kommen. Aber sie sollten es doch so machen wie ich, wenn ich in eine unbekannte Ecke des Schilfgürtels aufbreche. Ich beobachte zuerst aus der Ferne, bin sehr vorsichtig und achte auf die anderen Tiere, die dort wohnen.

Das sollten auch die Zweibeiner tun: sich informieren, sich an die Regeln halten und Respekt zeigen gegenüber den Mitlebewesen. Wenn das alle tun, hat es Platz für Zweibeiner und für Teichhühner.»