Energieknappheit

Die Frühjahrsmüdigkeit ist eine Begleiterscheinung dieser Jahreszeit. Die erwachende Natur sollte uns eigentlich Schwung verleihen, aber eben ...

Es soll Menschen geben, die am Morgen voller Tatendrang und mit einem Tarzanschrei aus dem Bett springen, um den Tag in Angriff zu nehmen. Energiebündel eben, kaum zu bremsen vom Alltag und schon gar nicht von der Frühjahrsmüdigkeit.

Ich gehöre nicht dazu. Meine Frühjahrsmüdigkeit wird gelegentlich ergänzt durch die noch wenig bekannte Sommer-, Herbst- und Wintermüdigkeit. Jederzeit ist mit dem Auftreten von unkontrollierbaren Schüben zu rechnen, der frühe Morgen ist dafür besonders anfällig. Es ist mir auch nach wie vor ein Rätsel, wieso man am Morgen Gold im Mund haben sollte, wenn als Erstes Zähneputzen angesagt ist. Vielleicht hat man kostspielige Zahnimplantate, mag sein, aber Gold im Mund ist ungesund. Morgenstund ist aller Laster Anfang, das muss es auch nicht sein. Ich bin gelegentlich sogar für Laster zu schwunglos am Morgen.

Ich halte mich also an die Natur, die ja auch nicht von jetzt auf sofort die Jahreszeit wechselt. Der Übergang ist fliessend, meist sanft. Ein warmer Sonnenstrahl hier, eine erste Blume da, dann werden die Vögel hörbarer: Die Natur gibt uns Zeit, die neue Jahreszeit zu erleben. So gestalte ich die müden Tage vergleichbar: Schritt für Schritt, ein warmer Kaffee hier, ein erstes Mail da, dann werden die Telefone hörbarer.

Das funktioniert nicht immer, ich weiss. Müde steht man auf, und der Alltag schreit «Hallo!» in einer unflätigen Weise, sodass nicht einmal ein Zurück in die Federn Abhilfe schafft. Der letzte Rest von Humor geht dann verloren, wenn jemand vorschlägt, das alles mit Humor zu nehmen. Das kann niemand. Glaubt das jemand nicht, so sei ihm eine Fahrt in einem öffentlichen Verkehrsmittel am frühen Morgen empfohlen. Dort sitzen nahezu nur Menschen, die es mit Humor nehmen ...

Einen richtigen Ausweg kenne ich auch nicht. In der Wurzel der Bedeutung heisst Energie das Wirken im Innern, das Arbeiten im Innern. Somit hilft vielleicht(!), still in sich herumzusuchen, ob da noch ein Rest Energie zu finden ist. Die Suche wird bei mir zuweilen flüssiger nach Genuss eines Stücks Schokolade*. Hilft das alles nichts, landen wir beim Selbstbetrug oder beim autogenen Training: Wir reden uns ein, die Welt sei ein Schlaraffenland. Wir stellen uns eitel Freude und Sonnenschein in blühenden Farben vor. Wir überzeugen uns, dass uns die Welt zu Füssen liegt. Und besonders gewiefte Selbstbetrüger sagen sich das Zauberwort aus «Mary Poppins» vor: Supercalifragilisticexpialidocious. Das hilft.

Der Dichter Eichendorff wusste das mit dem Zauberwort. Er hat in unvergleichliche Verse gepackt, was ich oben unzulänglich, steif und eher grenzständig zu formulieren versuchte:

Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.

Stimmt doch! Man muss es nur versuchen!