Eine Reise zu mir selbst

Mild ist es draussen, 27 °C zeigt das Thermometer an. 4 Uhr morgens, an Steuerbord leuchtet rötlich der Widerschein der Lichter von Rio de Janeiro am bewölkten Himmel. Die Küste und das Meer sind nur zu erahnen. Die Stim­­mung auf der dunklen Brücke der MONTE OLIVIA ist geprägt von den unzähligen, abgedämpften Lichtern der Bildschirme und Instrumente und dem leisen Vibrieren der Maschine, die fast 40 Meter unter uns arbeitet.

Für 6 Uhr ist das Treffen mit dem Lotsen vereinbart, der das riesige Containerschiff in die enge Bucht von Sepetiba führen muss. Das Meer ist ruhig, der Wellengang kaum fühlbar. Dann die Meldung, dass der Lotse erst um 8 Uhr verfügbar sei. Verhaltener Ärger macht sich beim deutschen Kapitän und dem polnischen Chief Mate, dem in dieser Stunde wachhabenden Offizier, breit. Das Schiff muss beidrehen, warten. Ich bestaune den spektakulären Sonnenaufgang über den Bergen von Rio, der Himmel scheint zu explodieren. Langsam werden nun die Konturen der mir unbekannten Umgebung deutlich, die harten Linien der Hügel und der vor uns liegenden Bucht lassen sich unterscheiden. Später dann steuern wir den Tiefwasserkanal an, geleitet von den ruhigen, präzisen englischen Kommandos des brasilianischen Lotsen: «3-1-1», und sofort die Quittierung des philippinischen Steuermannes: «3-1-1», und später, als das Schiff dem neuen Kurs folgt, die Bestätigung «3-1-1, Sir».

Hinter uns liegen an die 6000 Seemeilen oder 11 000 km. 15 Tage sind es her, seit ich in Hamburg an Bord der MONTE OLIVIA gegangen bin. Nach Zwischenhalten in Antwerpen und Le Havre die Überfahrt, die uns auf der Route der ersten Reise von James Cook an Madeira, den Kanaren und den Kapverden vorbei an die Ostspitze von Brasilien führt. Die Überquerung des Äquators erlaubt, die Veränderungen am Nachthimmel zu erforschen, der sich bereits unmittelbar nach Sonnenuntergang über uns unbehindert von störendem Restlicht als Halbkugel präsentiert. Kapitän Betz, in Astronavigation geübt, ist eine Fundgrube von Erklärungen zum nächtlichen Schauspiel.

Die Bucht von Sepetiba

Die MONTE OLIVIA vom Bugmast aus aufgenommen; 200 m bis zur Brücke

Das Heck der MONTE OLIVIA: 40 m breit

Die Sonne und die Nähe zur Küste lassen aus dunklen Flächen bewaldete Hügel werden, ein Sandstrand ist zu erkennen, Häuser sind zu sehen. Einige Minuten später sind im Wald Palmen, Pinien und Gehölz, dessen Namen ich nicht kenne, auszumachen, die mir noch fremde Gegend bekommt ein Gesicht. Wie muss das für Magellan und seine Leute gewesen sein, als sie diese Küste entdeckten? Die Wasseroberfläche glättet sich zusehends, je tiefer wir in die Bucht kommen. Das Schiff läuft nur acht Knoten (15 km/h), um die schmale Fahrrinne mit ihren engen Kurven halten zu können.

Der Rhythmus an Bord wird bestimmt durch die Abfolge der Mahlzeiten. Sonst kann ich tun und lassen, was ich will. Zeit zum Denken, Lesen und Schreiben. Die Tage habe ich innerlich nicht gezählt, zeitlos ist alles auf dieser Reise, viel Distanz kann ich gewinnen, zum Gewusel in der Schweiz, zum Alltag in Bern. Auf dem Schiff, das mit weniger als 40 km/h durchs Wasser pflügt, kommt Ruhe auf, alles geht etwas besonnener einher. Der Genuss, Zeit zu haben, ohne Zwischenrufe, Mails und Telefonverkehr, kommt rasch auf. Lesen, dösen, schreiben, die Gedanken ordnen und die Weite unserer Erdkugel erfahren, beschäftigten mich dieser Tage, ungestört. Eine Reise zu mir selber.

Ein Schlepper gesellt sich zu uns und unterstützt und sichert das Schiff beim Anlegen im engen Hafenbecken von Sepetiba. Von weitem bereits sind kleine orange Tupfer auf dem Kai auszumachen, die Hafenarbeiter, die darauf warten, die Wurfleinen aufzufangen und die schweren Trossen an Land zu ziehen und zu vertäuen. Elegant, unmerklich fast schiebt sich das Schiff, dessen Gesamtgewicht an die 140 000 t wiegt, an den Kai und legt an.

Während der Liegezeiten in den Häfen ist die 25-köpfige Besatzung durch den Lade- und Löschvorgang stark beansprucht. Doch auf See ist Zeit zu Gesprächen reichlich vorhanden. Sie werden mit einzelnen Besatzungsmitgliedern täglich etwas anspruchsvoller, persönlicher. Die Menschen haben Vertrauen gefasst zu mir, doch wahren sie auch unter sich stets eine bestimmte Distanz, aus Selbstschutz wohl, man ist insgesamt dicht beieinander und vor allem nicht für ewig, alle drei bis neun Monate gibt es neue Gesichter, einige Seeleute sieht man nur für Wochen. Auffallend wenig werde ich über mich befragt. Die Neugier über Privates wird gezügelt, Fragen nach dem privaten Leben wenn nicht vermieden, so doch sehr achtsam vorgetragen, in sanften Andeutungen. Dieser Umgang ist angenehm und schafft auf der beschränkten Fläche Raum. Raum für das eigene Seelenheil bietet auch das Meer, die rasch wechselnden Wolkenbilder, diese unglaubliche Weite, an der ich mich nicht sattsehen kann, in die einzutauchen Wesentliches zur Erholung beiträgt, gleichermassen mit dem steten Vorwärtsdrängen des Schiffs, dessen Pochen und Vibrieren vom Körper verinnerlicht wird.

Doch jetzt ist es ruhig geworden. Der Blick wird durch die hügelige Landschaft und die mächtigen Ladekräne eingeschränkt, die Hauptmaschine ist abgestellt. Einen Ausflug an Land werde ich in Sepetiba auf die unmittelbare Umgebung des Schiffs beschränken. Der nächste Flecken, ein paar Ferienhäuser, die hinter einem dicht bewaldeten Hügel liegen, ist nur auf einer Strasse zu erreichen, die, durch Hindernisse aller Art, sich auf erheblichen Umwegen zu den Häusern hinschlängelt. Dieser solcherart verhinderte Landgang ist nicht zu meinem Schaden. Weitere Bücher warten auf mich, bestimmte, in den letzten Tagen begonnene Gedankengänge müssen weitergesponnen und wenn möglich vor meiner Ankunft in Buenos Aires zu einem befriedigenden Zwischenabschluss gebracht werden. Zeit haben, das habe ich mir bei der Vorbereitung der Reise erhofft und nun reichlich gefunden, nach Menge und Qualität bemessen.