Eine Pionierin der ausserfamiliären Kinderbetreuung
«Sie empfand es als persönlichen Angriff, wenn man die Krippen zur ‹Gaumschule› stempeln wollte, die der Bequemlichkeit der Mütter Vorschub leiste», heisst es in einem Nachruf auf Emma Stämpfli-Studer (1848–1930), die in der Geschichte unseres Unternehmens eine prägende Rolle gespielt hat. Wer die heutige Diskussion um die ausserfamiliäre Kinderbetreuung verfolgt, kann zwar verstehen, dass es vor hundert Jahren Skepsis gegenüber solchen Einrichtungen gegeben hat. Dass heutzutage die Argumente gegen Kindertagesstätten und Tagesschulen ähnlich tönen, erstaunt schon mehr.
20.03.2009
Emma Stämpfli-Studer verbrachte ihre Jugendzeit inmitten von Brüdern, Cousins und Cousinen am oberen Ende der Berner Spitalgasse, unmittelbar neben dem mittelalterlichen Christoffelturm, wo ihr Vater eine Apotheke betrieb. Im Sommer pflegte die Familie einige Zeit «auf dem Land» zu verbringen, in der «Prärie» nämlich, der Campagne hinter der heutigen Dreifaltigkeitskirche. Emma Stämpfli hat ihre Jugenderlebnisse, zu denen auch der Abriss des Christoffelturms gehörte, in einem Mundartbändchen «Der Christoffelturm und syni Nachbaren im Studerhus – Öppis usem alte Bärn» lebendig beschrieben.
1869 heiratete Emma Studer Karl Stämpfli, der sich anschickte, den bescheidenen Gewerbebetrieb seiner Vorfahren zum industriellen Unternehmen im neuen Fabrikgebäude an der Hallerstrasse auszubauen. Karl Stämpfli brachte es auf politischer Ebene bis zum Nationalrat und scheint ein Patron gewesen zu sein, dem das Wohl seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Herzen lag. Zusammen mit seiner Frau gründete er in der Länggasse eine Krippe, wo die Kinder der bei ihm und anderswo beschäftigten Mütter betreut wurden. Emma Stämpfli amtete jahrelang als Präsidentin dieser Institution.
1894 verstarb Karl Stämpfli im Alter von nur 50 Jahren. Seine Söhne waren noch zu jung, um die Nachfolge anzutreten, aber seine Frau schreckte nicht davor zurück, die Verantwortung für den aufstrebenden Betrieb mit mehr als 100 Beschäftigten zu übernehmen. Dabei war es beileibe nicht so, dass während der über zehn Jahre, in denen sie die Firma führte, Stillstand in der Entwicklung herrschte. 1897 entstanden der Mittelbau und daran angrenzend ein neuer Maschinensaal mit Dampfkesselanlage und 1904 die Aufstockung eines neuen Setzersaales. 1895 errichtete sie «in Ausführung seines Wunsches» zum Andenken an ihren verstorbenen Gatten eine Kranken-, Invaliden- und Sterbekasse, was für die damalige Zeit bahnbrechend war und für Nachhall bis weit ins 20. Jahrhundert hinein sorgte. Als sich der Verfasser dieser Zeilen Mitte der 1950er-Jahre anschickte, nach Bern zu Stämpfli zu wechseln, machte ihn sein damaliger Chef in Zürich fast ehrfürchtig auf die Vorsorgeeinrichtung aufmerksam, die in seinem neuen Betrieb Tradition habe.
Während Jahrzehnten redigierte Emma Stämpfli nebenbei Jahr für Jahr den «Hinkende Bot». Sie brachte Farbe in den Kalender, indem sie ihn erstmals mit Farbdrucktafeln versah.
Breite gemeinnützige Tätigkeit
Die vielfältigen Aufgaben in der Druckerei vermochten Emma Stämpfli-Studer nicht davon abzuhalten, weiterhin gemeinnützig tätig zu sein. A. Guggenbühl-Kürsteiner, die Initiantin der St. Galler Kinderkrippe, bezeugte, dass sie im Vorfeld dieser Gründung in Bern durch Emma Stämpfli «in vorbildlicher Weise» mit allen neuen Aufgaben bekannt gemacht worden sei. 1907 gründete Emma Stämpfli mit andern zusammen den Schweizerischen Zentralkrippenverein, den Vorgänger des heutigen Verbandes Kindertagesstätten Schweiz (KiTaS). Sie war dessen erste Präsidentin und gleichzeitig massgebend an der Redaktion des Organs des Vereins, «Krippenbericht», beteiligt, der im Hause Stämpfli gedruckt wurde. Sie hielt Vorträge über die Entwicklung des Krippenwesens und erwirkte beim Bundesrat Beiträge für den Zentralkrippenverein. Nach dem Schweizer Muster entstand in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg ein Krippenverband.
In einem Beileidsschreiben der städtischen Behörden werden die unschätzbaren Dienste auf dem Gebiete der Kinderfürsorge erwähnt, die Emma Stämpfli geleistet hat. Tatsächlich gingen ihre Bestrebungen weit über das Krippenwesen hinaus, indem sie in der Länggasse einen Mädchenhort ins Leben rief und im Zentralvorstand von Pro Juventute und anderen gemeinnützigen Organisationen mitarbeitete.