ein trauriger Jahrestag

Tschernobyl, der Name steht für die grösste zivile nukleare Katastrophe in der ­Geschichte der Menschheit, aber auch für vieles, was die damalige Weltmacht UdSSR ­ausgemacht hat: den Glauben an den technologischen Fortschritt, die ­Opferung der natürlichen Ressourcen, einen Machtapparat, der keine Rücksicht auf die ­Bevölkerung nimmt.

«Wissen Sie, wie viele Menschen bei dem Unfall ums Leben gekommen sind, Mr. Hofmann?» Mein Begleitoffizier warf mir einen herausfordernden Blick zu, sein ziviler Anzug passte so gar nicht zu seinen an den ­Seiten kahl geschorenen Haaren. Ich stieg in sein Auto, eskortiert von zwei Uniformierten, die auf den ausgeleierten Rücksitzen Platz nahmen.

«Nein», erwiderte ich. «Aber es müssen ­Tausende sein.»

«128, Mr. Hofmann, 128.»

Skeptisch schaute ich vom Beifahrersitz zu ihm hinüber. Während seine Hände das Lenkrad fest umklammerten, machte sich ein zufriedenes Grinsen auf seinem Gesicht breit.

«Das glauben Sie nicht?», er wandte seinen Blick nicht von der Strasse ab.

«Was ist mit den Menschen, die wegen der Strahlung an Krebs erkrankt sind?»

«Nun», meinte der Offizier in Zivil, «Krebs hat es schon vor dem Unfall gegeben, das ist eine andere Statistik.»

«Aber … es handelt sich um eine der grössten nuklearen Katastrophen in der menschlichen Geschichte!»

«Nein», meinte er trocken. «Es war ein ­Unfall, nicht mehr, nicht weniger.»

Er holte einen Geigerzähler aus seiner ­Tasche und schaltete ihn ein. «Sehen Sie, Mr. Hofmann, keine Strahlung, und wir sind nicht mal 160 Kilometer vom Reaktor entfernt.»

Ich nahm den Geigerzähler, er schlug im Bereich von 0,1 bis 0,2 Millisievert aus. Ich hatte mich vorher informiert und wusste, dass er ab 0,3 mS zu ticken begann. Je schneller und lauter, desto mehr Radioaktivität gab es. Doch jetzt gab er keinen Laut von sich, ich war beruhigt.

So beginnt Alexander Hofmann seine ­persönlichen Schilderungen über den Besuch von Tschernobyl und Prypjat ein ­Vierteljahrhundert später. Als am 26. April 1986 der Reaktor 4 des 140 Kilometer nördlich von Kiew gelegenen Atomkraftwerks explodierte, war Hofmann zwölf Jahre alt. Rund 325 000 Menschen mussten damals umgesiedelt werden, ein Gebiet von 4300 Quadratkilometern erklärte man zur Sperrzone. Die Gegend wird für viele Jahre unbewohnbar bleiben, der Kern der Sperrzone nach menschlichem Ermessen für ­immer.

Natürlich waren die Auswirkungen in der näheren Umgebung von Tschernobyl am heftigsten. Man musste aber nicht in der ­Ukraine, in Russland oder in Weissrussland leben, um von der Katastrophe betroffen zu sein. Wer damals alt genug war, erinnert sich noch an die Schlagzeilen und die Warnungen der Behörden. Erstmals wurden gewöhnliche Leute mit Begriffen wie Becquerel und Millisievert konfrontiert. Pilze, Beeren, Milch und andere Nahrungsmittel galten als besonders stark belastet.

Das war das Beklemmende an dieser Katastrophe: dass man die Radioaktivität nicht sieht, nicht hört, nicht riecht und nicht schmeckt. Man konnte die Warnungen ernst nehmen oder für Propaganda halten. Die Auswirkungen aber waren auch bei uns real. Deutsche Bauern durften ihre Kühe nicht auf die Weiden bringen, Kinder durften zum Spielen nicht ins Freie.

Eines dieser Kinder war der aus Berlin stammende und heute in Basel lebende Fotograf Alexander Hofmann. Damals beschloss er, dereinst selbst nach Tschernobyl zu reisen, um mit eigenen Augen zu sehen, was ihm diesen Hausarrest eingebrockt hatte. Heute nennt er es eine «morbide Faszination», die der Ort auf ihn ausübt. Was er von seinem Besuch zurückgebracht und nun in ein Buch gepackt hat, ist mehr als eine Dokumenta­tion des Grauens in Bildern und Worten.  


Tschernobyl 1986

Tschernobyl war das erste AKW-Unglück, das auf der internationalen Bewertungsskala mit der höchsten Stufe bewertet wurde: ein katastrophaler Unfall, der Super-GAU. Wie viele Menschenleben die Katastrophe wirklich gefordert hat, werden wir nie erfahren. Während die Zahl der direkt auf den Unfall zurückzuführenden Todesopfer je nach Behörde mit 50 bis 150 beziffert wird, reichen die Schätzungen durch die weiteren Auswirkungen der Strahlenbelastung von 10 000 bis zu mehr als 1,7 Millionen Opfer.