Der höfliche General

Jeden Morgen ritt Henri Guisan aus. Auch in Interlaken, wo sich seit 1941 das Hauptquartier des Schweizer Generals befand. Die Armee war ins Reduit gezogen, eine Art Alpenfestung zwischen St-Maurice im Wallis und Sargans im Osten des Landes. Frau Egli, eine lustige Ostschweizerin, traf den General oft zu früher Stunde an: «Bonjour, mon Général!», sagte sie. «Bonjour, Madame Egli!», grüsste Guisan zurück, und mit geradem Rücken ritt er weiter.

Der höfliche General

Wenn die Schweizer je einen Mächtigen geliebt haben, dann Henri Guisan, diesen Gentleman, dem sie das Land in schwerster Zeit anvertraut hatten. Es ist ein Phänomen. In seinem Hauptquartier scharte Guisan einen Stab von jungen, gescheiten Offizieren um sich, die seine Reden schrieben, seine Fotos begutachteten, seine Stimmung pflegten. Bei Tisch hatte er es gerne friedlich. Selten wurde über Politik gesprochen, nie gestritten. Die Konversation plätscherte. Vor dem Essen stand ein Offizier auf und verlas in bestem Französisch die Menükarte. Die Tischdecke war schneeweiss, serviert wurde von livrierten Kellnern. Lud Guisan Gäste ein, wie etwa alt Bundesrat Rudolf Minger, der einer seiner besten Freunde war, dann verschickte der Stab Einladungskarten, die speziell für das Hauptquartier gefertigt worden waren. Man hatte sie mit Schweizer Kreuzen und Kanonen verziert. Nach dem Essen schätzte es Guisan, wenn man einen Schieber klopfte. Zwar liess er sich das nicht anmerken, aber alle wussten: Guisan verlor nicht gerne. Kam es doch dazu, nahm er sich zusammen.

Guisans Charisma

Was auf den ersten Blick irrelevant wirkt, war tatsächlich ein wichtiges Element des Charismas dieses Generals: In einer Zeit, da in Europa junge, zornige Männer wie Hitler oder Stalin ihre Gesellschaften zerstörten und Millionen Menschen ermordeten, indem sie eine neue Welt versprachen, bot Guisan ein Kontrastprogramm. Alteuro­päische Höflichkeit, Stil, Sinn für Proportionen und Tradi­tionen: Das drückte dieser Waadtländer Landwirt aus, wenn er die Menschen auf der Strasse be­grüsste oder sich mit den Soldaten am Rand eines Manövers unterhielt.

Es fiel ihm nicht schwer. Guisan war ein menschenfreundlicher Mensch, dessen Eitelkeit und Ehrgeiz zwar erkennbar waren, aber niemanden störten. Er lebte es so charmant aus. Guisan war auch ein Pedant: Seit seiner Hochzeit mit einer reichen Tochter aus gutem Haus, die ihm erst den Lebensstil eines Landedelmannes ermöglichte, notierte der spätere General alle Ausgaben auf den Rappen genau in seinen Haushaltsbüchern. Fr. 2.–  für einen Leutnantsstreifen für seine Offiziersmütze, Fr. 4.– für die Entbindung seines Sohnes, Fr. 1.50 für einen Bettler. Als strenggläubiger Calvinist überliess er nichts dem Zufall. Zeit war Geld, Ordnung gefiel Gott.

Rückzug ins Reduit

Ob Guisan sich bewährt hätte, wenn die Deutschen wirklich angegriffen hätten: Es ist offen. Klar ist, dass er mit seinem Entscheid, die Armee ins Reduit zurückzuziehen, alles getan hatte, was militärisch möglich war. Ob es die Deutschen abschreckte, wird sich nie mit Bestimmtheit sagen lassen. In der Geschichte ist es schwer genug, zu erklären, warum etwas geschehen ist. Zu begründen, warum ein Ereignis nicht eingetroffen ist, treibt den Historiker zur Verzweiflung. Immerhin nahmen die Deutschen das Reduit wahr – und in ihren Berichten sprachen sie von einer «schwer zu lösenden Aufgabe».

Es war eine Notlösung, die vielen zu Anfang als sehr kurios erschien. Das Mittelland und die Familien aufzugeben, um die Gletscher zu verteidigen: Allein dank Guisan, der täglich dafür warb, erhielt bald fast die ganze Bevölkerung das Gefühl, die Schweizer Armee habe das Richtige getan. Angst blieb bestehen, dennoch fühlte man sich sicher, wenn dieser ältere Herr mit französischem Akzent auf Radio Beromünster alle zum Widerstand aufrief. Widerstand nach Schweizerart.

Der General ist tot

Als Guisan am 7. April 1960, vor fünfzig Jahren, starb, trauerten fast alle Schweizer. Man ehrte ihn mit einem der eindrücklichsten Staatsbegräbnisse, die die Schweiz je einem Offizier oder Politiker ausgerichtet hatte. Wer es erlebt hat, und sei es nur als Hörer einer Meldung im Radio, spricht heute noch davon. Der grosse Schweizer Germanist Karl Schmid erzählte eine bezeichnende Geschichte: Als der Tod Guisans bekannt geworden war, sass er gerade mit Freunden zusammen, Schweizern und einem Österreicher. Den ganzen Abend sprachen die Schweizer über Guisan, tauschten Anekdoten aus, erinnerten sich. «Wer ist dieser Guisan?», wunderte sich der Österreicher, und die Schweizer begannen, ihm zu erklären, warum sie so an diesem General gehangen hatten. Am Ende des Abends sagte der Österreicher: «Ich muss staunen. Ihr habt seit Jahrhunderten keine Kriege mehr geführt, aber ihr identifiziert euch mit der Armee wie kein anderes Volk. Und ihr seid die eingefleischtesten Republikaner, die man sich denken kann, aber ihr sprecht einen Abend lang von eurem General wie von einem Pater patriae. Ich verstehe vieles nicht an dieser Schweiz, aber ich beneide euch.»


General Guisan – Widerstand nach Schweizerart

Markus Somm, Autor

ca. 224 Seiten, gebunden

CHF 49.– / € 29,80