Begegnungen im Jahr der Armut

Einige Begegnungen fanden nicht statt. Armutsbetroffene, die ihre Bereitschaft signalisiert hatten, uns zu empfangen, waren plötzlich nicht mehr da. Andere hatten Angst vor dem eigenen Mut, wollten sich doch nicht exponieren. Doch die 21 Menschen, die man im Buch «Vom Traum, reich zu sein» nun kennenlernen kann, waren dazu bereit. Sie haben uns – Fotograf Hansueli Trachsel und mir – Einblicke in ihr Leben gewährt, uns über ihre Sorgen und Nöte berichtet, über ihre Frustra­tionen und Enttäuschungen, aber auch über ihre Freuden, Hoffnungen und Wünsche. Die Bild-Text-Porträts, die dabei entstanden sind, diese «Armutszeugnisse aus der Schweiz», haben sie dann autorisiert – ausnahmslos, ohne Wenn und Aber, fast ohne Änderungswünsche.

Dank ihnen ist dieses Buch möglich geworden. Dank Walter Wälti zum Beispiel, der 43 Jahre «mit Leib und Seele» Baumaschinenführer gewesen ist und nun feststellen muss, dass «das halt seine Spuren hinterlassen hat». Dank der alleinerziehenden Mutter Daniela Henggi, die sich mutig «durchboxt» und hofft, ihre Söhne würden im Leben nicht auch «an eine arschkalte Mauer prallen». Dank dem Exjunkie Daniel Christen, der auf eine triste Jugend zurückblickt und nun konstatiert: «Eigentlich müsste ich längst tot sein. Aber ich lebe noch. Sorry.» Dank Dagmar Hajek, die sich schon reich fühlt, wenn sie am Morgen «keinen Knopf im Bauch» hat. Oder dank Hans Hutmacher, der an Diabetes leidet, einen Hirnschlag erlitt, im Lotto beinahe eine Million gewann und nun meint: «Ich weiss nicht, was ich damit gemacht hätte. Es ist gut so, wie es ist.» Und: «Man darf nicht immer das Gefühl haben, den andern gehe es besser als einem.»

In der reichen Schweiz geht es aber vielen besser als Walter Wälti und allen anderen Armutsbetroffenen. 220 000 Schweizerinnen und Schweizer gehören zum stets grösser werdenden Kreis der Mil­lionäre, mehr als 4000 haben ein Jahreseinkommen von über einer Million Franken. Die 300 reichsten Schweizer haben ein Gesamtvermögen von 480 Milliarden Franken. Doch die Zahlen am unteren Ende der Skala sind nicht weniger schwindelerregend. Laut Caritas Schweiz muss etwa jede zehnte Person mit einem Erwerbseinkommen unter der Armutsgrenze auskommen. Das sind zwischen 700 000 und 900 000 Personen.

Einige von ihnen – vor allem Sozialdienste und kirchliche Krei­se haben uns zu ihnen geführt – porträtieren wir in diesem Buch, um der vordergründig oft kaum erkennbaren Armut im reichen Land ein Gesicht zu geben. Es sind alte und junge Armutsbetroffene, alleinerziehende Mütter, Arbeitslose und Ausgesteuerte, Drogenabhängige, Kranke und Obdachlose, Ausländerinnen und Ausländer. Auch Menschen, die ihre Sozialhilfeabhängigkeit selber verschuldet haben. Und vor allem «ganz gewöhnliche» Menschen – Menschen, die ihr Leben aus verschiedensten Gründen nicht mehr aus eigener Kraft meistern können. In den sehr offenen, sehr persönlichen und sehr intensiven Gesprächen mit ihnen haben wir auch herausgehört, dass das Wort Armut aus zwei Wörtern besteht: aus «arm» und aus «Mut».