Annäherung an Auschwitz/Birkenau

Leon Uris’ Roman «QB VII» habe ich als Jugendlicher gelesen, zu früh, als dass ich die Schilderungen hätte einordnen können. Das Buch hinterliess Verletzungen, die mich über Jahre daran hinderten, mich mit dem Holocaust und den Nationalsozialisten ernsthaft auseinanderzusetzen. Der Zufall spielte mir dann vor wenigen Jahren «Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater» von Martin Pollack in die Finger; mit ihm gelang mir die von nun an gezielte Erarbeitung der genannten Themen, und es ermög-lichte auch die Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte Polens, besonders dem Leben und Sterben im Warschauer Ghetto.

Auschwitz war mir als Wort und Ort des Grauens seit meiner Kindheit bekannt, doch in den Schulklassen, die ich besuchte, wurde die Geschichte ab 1933 ausgeblendet; die Beweggründe, das detailliert geplante Vorgehen und der Umfang des Vernichtungsplans und dessen Umsetzung und selbst die geografische Lage im heutigen Südosten Polens waren mir nur oberflächlich bekannt. Nach der erstmaligen Besichtigung des «Umschlagplatzes» in Warschau, wo die SS weit über 300 000 Juden in die Eisenbahnwagen zum Abtransport in die KZ verfrachtet hatten, wurde mir bewusst, dass ich den Besuch in Auschwitz nicht länger verdrängen konnte. Doch Angst vor der Konfrontation mit dem, was dort dokumentiert sein musste, zwang mich, mich in einem langen Prozess darauf vorzubereiten. Autobiografische Erzählungen wie die von Primo Levy1  und Imre Kertesz sowie literarische Abrechnungen und Recherchen der Nachkommen von Nazigrössen, wie Niklas Frank, jüngster Sohn des NS-Generalgouverneurs von Polen, oder Katrin Himmler, der Grossnichte Heinrich Himmlers, dienten mir neben der Fachliteratur als wichtige Orientierungspunkte. So gerüstet, besuchte ich letzten Sommer zusammen mit meiner Frau und Freun­den Auschwitz und Birkenau.

Die Vorbereitung war entscheidend für meinen Besuch. Denn plötzlich steht man da auf einem grossen Parkplatz, vor einem Museumseingang, in dicht gedrängten Menschenmassen, die sich in die heutige Leere des KZ ergiessen, recht ruhig und geordnet zwar, aber irgendwie zu einfach. Die Backsteingebäude in Auschwitz und die in Birkenau weitgehend zerstörten Anlagen lassen sich vor Ort und ohne vorherige Auseinandersetzung nur teilweise einordnen. Eine gewisse Harmlosigkeit überkäme einen wohl, wenn nicht im Kopf die erzählten Erlebnisse der Überlebenden, die Fakten zur Maschinerie der Judenvernichtung und der Zynismus der Nazis aufscheinen würden und dem Bild vor Ort alle Oberflächlichkeit nähmen. Ich war dankbar für jede Zeile Text, mit der ich mich auseinandergesetzt hatte. Glücklicherweise hatten wir eine Führung gebucht, eine ausgezeichnet Deutsch sprechende Polin nahm sich mehrere Stunden Zeit, um uns durch diese Welt zu führen, die in Worten kaum zu fassen ist.

Auschwitz und das wenige Kilometer entfernte Birkenau zeigen den Wahnsinn der Nazis bereits in der geografischen und architektonischen Anlage. Hier Auschwitz, älter und enger, ehemalige Kasernenanlage, die umgebaut und ausgebaut wurde, fast mitten in der damaligen deutschen Musterstadt Auschwitz (polnisch: Oświęcim) gelegen, dort Birkenau, als Steigerung zu Auschwitz als industrielle Vernichtungsanlage geplant, gebaut und benutzt, deutlich ausserhalb der Stadt, auf weitem, freiem Feld, riesig, kaum fassbar in den Ausmassen, nicht beschreibbar in der Bedeutung.

Auschwitz/Birkenau war das Zentrum des grossen Netzes von Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nationalsozialisten. Ab 1940 in Betrieb, starben hier ungefähr 1,3 Mio. Menschen, davon 1,1 Mio. Juden. Die dort durchgeführten pseudowissenschaftlichen medizinischen Experimente gelten noch heute als beispiellos grausam. Die als «Endlösung» bezeichnete Ausrottung der Juden wurde durch die Nazis mit industrieller Präzision geplant und durchgeführt. Schätzungsweise 6 Mio. Juden fielen ihr zum Opfer.

Die Eindrücke wirken in mir Tage und Monate nach dem Besuch intensiver nach als unmittelbar vor Ort. Mich beschäftigt diese Sprachlosigkeit, die Unmöglichkeit, die Eindrücke zu beschreiben, oder dann nur in Hinweisen, einzelnen andeutenden Details. Ich wurde von einem Bekannten gefragt, ob sich die Reise nach Auschwitz gelohnt habe. Das ist die falsche Frage in guter Absicht. Die lange Vorbereitung hat sich gelohnt. Der Besuch selber war unabdingbar und wichtig. Ich muss sehen, um zu begreifen, selbst wenn Begreifen in Auschwitz nicht möglich ist.

Es ist zwingend, sich für den Besuch und die Auseinandersetzung vor Ort Zeit zu nehmen, zumindest einen ganzen Tag ohne zusätzliche Programmpunkte; auch wenn lokale Reisebüros schnellere Führungen anbieten und Auschwitz auf nicht nachvollziehbare Weise zur touris­tischen Attraktion zu verkommen droht. Der Besuch der Gedenkstätten kann mit einer Städtereise zu dem 70 Kilometer östlich liegenden Krakau verbunden werden. Nach dem anforderungsreichen Tag kann die Seele in der schönen, jugendlichen und lebendigen Altstadt entspannen und ruhig durchatmen.

1  Primo Levy, «Ist das ein Mensch?». Imre Kertesz, «Roman eines Schicksallosen». Niklas Frank, «Der Vater». Katrin Himmler, «Die Brüder Himmler». Sybille Steinbacher, «Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte»

2  Für weitere Informationen stehe ich gerne zur Verfügung: peter.staempfli@staempfli.com