«1191 Gramm Bern» – kein Gramm zu viel

Welche Stadt wiegt mehr: Paris oder New York? Mit den richtigen Angaben und etwas Zahlenakrobatik liesse sich diese Frage vielleicht sogar beantworten. Ungleich schwieriger wird es, wenn es darum geht, das genaue Gewicht einer Stadt zu bestimmen. Die einzige Ausnahme ist Bern. Die Schweizer Hauptstadt bringt 1191 Gramm auf die Waage. Mit all ihren bekannten und weniger bekannten Sehenswürdigkeiten. Sie zweifeln? Dann lesen Sie einfach mal weiter.

Liebeserklärung an Bern

1191 – in diesem Jahr gründete der Zähringerherzog Berchtold V. die Stadt Bern. Zwar hat die Bundesstadt zurzeit kein echtes Jubiläum zu feiern. Doch für einen in jeder Hinsicht herausragenden Fotoband ist jeder Zeitpunkt der richtige. Für die Qualität der Fotos bürgt allein schon die Qualität des Mannes hinter der Linse. Fast zwei Jahre lang war der Fotograf Caspar Martig mit seiner Kamera in seiner Heimatstadt unterwegs, immer auf der Suche nach ungewöhnlichen Perspektiven. Herausgekommen ist ein faszinierender Bildband über Bern, 528 Seiten dick, mit fast 300 Fotografien, die die vielleicht schönste Stadt am gesamten Aarelauf in völlig neuem Licht präsentieren.

Wein- statt Bieridee

Das ist aber noch nicht alles. Der eigentliche Clou des Fotobuchs ist nämlich sein Gewicht. Bei einem Glas Rotwein sei er, Caspar Martig, auf die Idee gekommen, das geplante Werk auf ein «Kampfgewicht» von 1191 Gramm zu trimmen, in Anlehnung an die Zahl des erwähnten Gründungsjahrs. So originell der Einfall auch ist, so schwierig war es, ihn umzusetzen. «Das Gewicht eines industriell hergestellten Buchs präzis zu bestimmen, bevor es gedruckt worden ist, ist im Prinzip unmöglich», erklärt Roland Werren, Kundenberater bei Stämpfli.

Das Problem: Bei der Papierproduktion lassen sich gewisse Unregelmässigkeiten nicht vermeiden. Kleinste Abweichungen genügen, und das Gewicht eines Buchs von mehreren Hundert Seiten liegt 20, 30 oder noch mehr Gramm über dem berechneten Wert. Ebenso wenig lassen sich vorgängig Farb- und Leimauftrag ganz genau ermitteln. Ein Glück, dass die Stadt Bern, die das Fotobuch in Auftrag gegeben hatte, bereit war, die To­le­ranz­grenze der industriell gefertigten Hauptauflage etwas auszuweiten. Herausfordernd blieb die Aufgabe für Stämpfli trotzdem.

Historischer Augenblick

Schaffen sie es, oder schaffen sie es nicht? Diese Frage bewegte alle, die über Monate in irgendeiner Weise mit dem Fotobuch zu tun gehabt hatten. Am 21. Oktober 2011 war es dann so weit. Die Zeiger der Uhr stehen auf kurz vor drei, die Spannung steigt: It’s show time! Hinter einer dicken Glasscheibe verrichtet Peter Fuchs die letzten Vorbereitungsarbeiten. Er ist Laborleiter beim Bundesamt für Metrologie (METAS), dem nationalen Messinstitut mit Sitz in Wabern. Peter Fuchs’ heutige Aufgabe: Er soll auf zwei Nachkommastellen genau das Gewicht von «1191 Gramm Bern» bestimmen – die vermutlich weltweit erste Kalibrierung eines Fotobands!

Wie schwer ist ein Kilogramm?

Normalerweise führt das METAS im Dienste von Wirtschaft, Forschung und Öffentlichkeit hoch präzise Messungen durch. Der unmittelbare Nutzen ist für Laien nicht immer sofort ersichtlich. Die praktischen Auswirkungen spüren wir jedoch alle, zum Beispiel bei einer Geschwindigkeitskontrolle, beim Einkaufen oder bei der Stromabrechnung.

Eines der «verrücktesten» Projekte des METAS ist die Neudefinition des Kilogramms. Während die sechs anderen physikalischen Basiseinheiten wie der Meter oder die Sekunde jeweils auf Naturkonstanten zurückgeführt werden können, ist die einzige Bezugsgrösse des Kilogramms ein reales Objekt in Form eines Platin-Iridium-Zylinders. Aufbewahrt wird dieser seit 1889 in Paris.

Dumm nur, dass das «Urkilogramm» auf der ganzen Welt nur einmal verfügbar ist, und noch dümmer, dass sich dessen Masse im Laufe der Zeit verändert, zwar nur unmerklich – Fachleute sprechen von einigen Millionstel Gramm pro Jahrzehnt –, aber immerhin. Deshalb arbeiten Wissenschaftler wie Peter Fuchs mit Hochdruck daran, das exakte Gewicht eines Kilogramms von einer Naturkonstanten ableiten zu können. Und exakt heisst in diesem Fall wirklich exakt: auf ein Mikrogramm bzw. neun Stellen hinter dem Komma genau.

Ein halbes Gramm Abweichung

Im Vorfeld der Kalibrierung waren mehrere leicht unterschiedlich schwere Buchblöcke und Deckel ins METAS geliefert worden, die mit Unterstützung der Schumacher AG (Schmitten) vor Ort zusammengesetzt werden sollten, um das angestrebte Gewicht möglichst präzis zu erreichen. Schon beim zweiten Versuch läuft alles rund: 1191,5 Gramm – eine vernachlässigbare Winzigkeit zu viel und mehr als deutlich innerhalb der vorgegebenen Toleranz! Ein vom METAS ausgestelltes Kalibrierzertifikat bescheinigt die buchbinderische Meisterleistung auch amtlich. Das zertifizierte «Urbuch» befindet sich mittlerweile an einem sicheren Ort im Berner Stadtarchiv.

Nicht gesagt ist damit allerdings, dass alle Besitzerinnen und Besitzer des Fotobands ein Exemplar in den Händen halten, das punktgenau 1191 bzw. 1191,5 Gramm wiegt. Das kann an den erwähnten Gründen oder an der Messungenauigkeit der hauseigenen Waage liegen. Oder an beidem. Sie können jedoch davon ausgehen, dass ihr Bern-Buch nur unwesentlich vom angestrebten Wert abweicht – das ideelle Gewicht dieses in vielerlei Hinsicht einzigartigen Werks natürlich nicht inbegriffen.