Prüfungen

Autofahrprüfungen, Lehrabschlussprüfungen, Eintrittsprüfungen: Wir kennen alle diese Situationen, in denen es gilt, alles zu wissen, jetzt und ohne Korrekturmöglichkeit. Auch das Leben ist eine dauernde Prüfung, doch sie lässt viele Verbesserungsmöglichkeiten offen und ist kaum je abschliessend.

Wir prüfen uns andauernd und gegenseitig. Sich dessen bewusst zu werden, ist etwas ernüchternd, hoffen wir doch darauf, von anderen so akzeptiert zu werden, wie wir sind. Und doch prüfen wir ständig. Zumindest unbewusst hören wir, ob das Gesagte mit Stimme, Mimik und Haltung des Sprechers übereinstimmt. Wir merken sofort, ob jemand etwas Freudvolles sagt, dies aber traurig klingt, ob etwas ernst gemeint ist oder nur so dahergeredet wird, selbst wenn der Inhalt derselbe ist. Wir können das Gehörte gut finden, aber wir nehmen es dem Vortragenden nicht ab, weil uns etwas an der Haltung oder in der Sprachwahl stört. Oder wir lassen uns überzeugen, weil die Sprecherin glaubhaft wirkt, ohne dass wir wissen, weshalb. Wir prüfen uns gegenseitig, selbst die Menschen, die uns am nächsten stehen.

Wir prüfen, ob Vertrauen aufgebaut oder missbraucht wird. Dabei stehen wir auch im Beruf nicht nur als Fachkraft, sondern als ganzer Mensch auf dem Prüfstand. Unser Umfeld wertet, ob unsere Haltung immer dieselbe ist oder nicht, ob wir je nach Umfeld zum selben Sachverhalt stets andere Mei­nungen vertreten oder ob wir verlässlich sind. Sind unsere Werte, unsere Ziele und unser Handeln aufeinander abgestimmt, notiert das das Umfeld positiv, andernfalls mit zunehmendem Befremden. Beruflich und privat kann dies bedeutende Folgen haben: Im guten Fall entsteht Vertrauen, nimmt man uns ernst, und werden wir Teil einer uns unterstützenden Gemeinschaft, im schlechten Fall drohen Ablehnung und Ausgrenzung, zumindest aber Misstrauen.

Eigenverantwortung beginnt beim Prozess, sich der eigenen Werthaltung bewusst zu werden, sich Ziele zu setzen und sein Handeln darauf abzustimmen. Wer dies versäumt, schädigt sich selber, denn auf Dauer kann niemand unbeschadet gegen seine 
innere Überzeugung handeln. Viele Burn-outs oder andere persönliche Krisen gründen in einer Missachtung der eigenen Bedürfnisse und Werte. Wer mit seinen Zielen und seinem Handeln sein Ich verrät, wird früher oder später scheitern, weil er sich im Innersten aufgibt. Starke Menschen leben starke Überzeugungen, finden so Orientierung und Halt, ohne dadurch stur zu werden oder sich neuen Ideen zu verschliessen. Sie scheuen die lebenslange Arbeit an sich selbst nicht, die nicht nur erhellende Erkenntnis bringt, sondern auch dunkle Momente und bohrende Fragen, die auszuloten anspruchsvoll und kräftezehrend ist. Dank Mitmenschen, die uns eine fruchtbare Auseinandersetzung ermöglichen, die uns zuhören und mit denen wir Gewissheiten zu überdenken und Hinter­gründe zu verstehen versuchen, lernen wir uns besser kennen. So wird die tägliche Prüfung zur positiven Erfahrung.