• Vorwort

Hemmungen

Es hätte nicht #metoo gebraucht, um zu wissen, wie enthemmte Menschen zum Schaden anderer sein können. #metoo hat teilweise drastische Folgen gezeitigt und weltweit ein Thema hervorgehoben, weil Frauen ihre Hemmungen überwunden haben. Doch wirklich gewonnen ist noch wenig, denn die Hemmungslosigkeit von Trump und Co. entspringt derselben Denkweise, die zu #metoo geführt hat.

Eine Hemmung, die eher eine respektvolle Zurückhaltung ist, ist zu begrüssen, nicht aber jene, die auf Gleichgültigkeit beruht. Doch die Beurteilung, welche Hemmungen richtig sind, entspringt keiner absoluten Wahrheit, und mit den Zeiten ändert sich auch die Wahrnehmung, zum Glück und Unglück. Zum Glück können wir heute (in der Schweiz) ohne Hemmungen über Homosexualität sprechen. Zum Unglück verhalten sich etliche auf den sozialen Medien in einem Ausmass unsozial, wie dies vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre. Sie schlagen verbal zu und beschimpfen oder bedrohen andere aufs Übelste. Hemmungslos unanständig. Auch wenn es bisweilen im Handgelenk juckt, haben wir gelernt, solche Menschen, wenn sie denn greifbar sind, nicht zu ohrfeigen. Hemmung vor Gewaltanwendung ist eine der wesentlichsten kulturellen Errungenschaften. Meinen Eltern verdanke ich die Hemmung, mit anderen nicht kindisch zu streiten, indem man sich übertrumpfen will: «Mein Vater ist stärker als deiner.» Das heisst heute bei Putin, Trump (immer wieder), Xi Jinping, Ajatollah Ali Chamenei, Kim Jong-un und sehr vielen anderen: «Meine Armee ist stärker als deine.» Hoffentlich haben sie Hemmungen, das beweisen zu wollen.

Ungehemmter Kapitalismus hat stets wieder grossen Schaden angerichtet, so mit der Finanzkrise, deren Verantwortliche hemmungslos weitermachen dürfen, mit der Ausbeutung von Menschen oder mit Brandrodungen in verschiedenen Ländern. Nicht wenige bereichern sich hemmungslos und scheuen sich auch nicht, in der Schweiz Rechtsschutz zu suchen und zu finden. Wir sollten keine Hemmungen haben, sie in die Pflicht zu nehmen, auch für das Unrecht, das sie in anderen Ländern verursachen, denn wir sollten weniger Hemmungen haben, für die Menschenrechte einzustehen.

Unternehmerinnen und Unternehmer müssen ihre Hemmungen ablegen und öffentlich für ihre Anliegen einstehen. Persönliches Engagement wirkt immer besser als ein zustimmendes Nicken hinter anderen, die einem die Kohlen aus dem Feuer holen. Oft höre ich als Begründung, warum man nicht öffentlich auftritt, man habe Hemmungen vor negativen Kundenreaktionen. Wenn Hemmungen verhindern, für etwas einzustehen, das einem wichtig ist, ist das schade und selten folgenlos. Da könnten wir von «grossen» Politikern vielleicht doch etwas lernen: Ihnen sind solche Hemmungen fremd.