• Vorwort

Geh aus, mein Herz!

Geh aus, mein Herz, und suc he Freud in dieser lieben Sommerzeit …

Rein meteorologisch sind wir noch im Frühjahr, Sommer wird es erst im Juni. Das heurige Frühjahr hat uns bisher jedoch mit wunderbarem Wetter verwöhnt, ein erster Sommertag wurde von den Statistikern vermerkt. Die Trockenheit beklagen etwa die Landwirte, den üppig umherfliegenden Blütenstaub die Allergiker. In dieses sonnige Frühjahr ist die aktuelle Corona-Krise gestellt und will so gar nicht zum schönen Wetter passen.

Zu Hause bleiben ist das Gebot der Stunde. Orte, an denen soziale Kontakte gepflegt werden können, sind geschlossen; man soll ohnehin den Kreis einer Gruppe auf maximal fünf Personen begrenzen. Kinder und Kindeskinder zusammen machen für meine Familie bereits eine zu grosse Schar aus, um sich gleichzeitig zu treffen. Eine eigenartige Stimmung scheint sich über alles gelegt zu haben, Unsicherheit, zuweilen eine fast gespenstische Ruhe; und das Ende der Pandemie ist nicht in Sicht. Wir alle sind betroffen, sie hat das ganze Land, die ganze Welt erfasst. Seit ich lebe kenne ich kein vergleichbares Ereignis, ein tiefer Einschnitt in den Alltag und in alles, was wir sonst mit Selbstverständlichkeit tun und ohne lange nachzudenken. Wie verändert diese Erfahrung uns alle, die Gesellschaft?

Ich kann selbstredend keine Antwort darauf geben. Die Gedanken scheinen sich zu fokussieren, auf das eigene Erleben und Fühlen, auf die eigene Art, mit Angst, Unsicherheit und Ungewohntem umzugehen. Enger gezogene Kreise, kaum über das eigene Heim, die eigene Familie hinaus, sind Tatsache und Notwendigkeit: Die Landesgrenzen sind zu, Reisen in der Schweiz nur bedingt empfohlen.

Im Denken und Fühlen trennt sich Spreu vom Weizen, der Ballaststoff vom keimfähigen Korn. In dieser besonderen Lage, so empfinde ich es, fällt so viel Unnötiges weg, fallen Angewohnheiten weg. Der Gedanke drängt sich auf: Brauche ich all diese Dinge in der Normalität wirklich? Oder sind sie auch unter den gewohnten Umständen eigentlich überflüssig, vielleicht sogar sinnlos? Die griechische Tragödie kennt die Katharsis, die Reinigung. Der Zuschauer erlebt Furcht und Schrecken, Mitleid oder Mitgefühl und erfährt im Durchleben dieser Zustände eine Reinigung seiner Seele. Wir sind wohl einer Tragödie ausgesetzt, der Blick auf die Zahlen zeigt es deutlich. Wir sind mit Angst und Schrecken konfrontiert, haben vermutlich ein ganzes Spektrum an Gefühlen, und vielleicht sehen wir uns auch hilflos diesen Kräften ausgesetzt.

Würde das in einen Zustand münden, in dem wir Ballast abgeworfen und unsere Gedanken wieder stärker auf die eigene Sinnhaftigkeit gelenkt haben, schiene mir viel gewonnen. Zum Frühjahr passt die Idee der Reinigung ja ganz gut: Ausmisten und putzen! Keine Quarantäne, kein Lockdown begrenzt die Gedanken. Sie können sich ohne weiteres vom Lied Paul Gerhardts[1] leiten lassen: Geh aus, mein Herz, und suche Freud!

 

[1] Text: Paul Gerhardt (1607-1676) 1656, kurz nach dem Dreissigjährigen Krieg geschrieben Melodie: August Harder 1775-1813